Sigmund Freud unterhält sich mit Mose über Gott und die Welt - und über die Psychoanalyse. Ein postplatonischer Dialog.
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Terrasse des King David Hotels in Jerusalem. An einem der Tische Sigmund Freud im Anzug mit Gilet und Uhrkette bei einer Tasse Kaffee; vor ihm ein Notizheft, in das er ab und zu schreibt. Am Nebentisch Mose mit Kippa, sportlich-leger gekleidet, bei einem Cola-Zitron. Nachdem er mehrmals zu Freud hingesehen hat, tritt er zu seinem Tisch.MOSE: Entschuldigen Sie bitte, dass ich störe, aber sind Sie nicht der Professor Freud? Oder sehen Sie ihm nur ähnlich?
FREUD: Ich bin es und ich sehe mir ähnlich. Was wünschen Sie? Irgendwie kommen Sie mir bekannt vor.
MOSE: Das glaube ich gern. Immerhin haben Sie mehrfach über mich geschrieben.
FREUD (überrascht): Unglaublich - Moses, der Mann aus Ägypten . . . Und offensichtlich halluziniere ich nicht. Bitte, nehmen Sie doch bei mir Platz.
MOSE: Sehr gern, Herr Professor. (Übersiedelt mit seinem
Cola.)
FREUD: Darf ich fragen, was Sie in Jerusalem machen?
MOSE: Die Hebräische Universität möchte mir posthum das Ehrendoktorat verleihen, und dafür sind noch ein paar Formalitäten zu klären. Sie wissen ja, die Bürokratie . . .
FREUD: Ich gratuliere Ihnen jedenfalls jetzt schon und freue mich natürlich sehr, dass wir einander einmal begegnen. Ich nehme hier als Beobachter am Internationalen Psychoanalytischen Kongress teil.
MOSE: Die Freude ist ganz meinerseits, Herr Professor. So viele Wissenschafter, Literaten, Bildhauer und Maler haben sich schon mit meiner Person beschäftigt. Bei Ihnen aber spielt da wohl mehr mit als akademisches oder künstlerisches Interesse.
FREUD: Ja, der Mann Moses reicht bei mir ins Existenzielle hinein, durch mein schwieriges Verhältnis zum Judentum.
MOSE: Ich denke, zum Juden wird man sowohl geboren wie gemacht.
FREUD: Ach ja, die Beschneidung . . . Bei meinen eigenen Söhnen habe ich sie mir verbeten, auch wenn sie angeblich zu mehr Ausdauer beim Koitus führt. In Wahrheit ist sie nichts anderes als eine gemilderte Form der Kastration - mit der hat sich seinerzeit der Urvater die sexuelle Vorherrschaft über die Frauen gesichert. Aber was meine Moses-Studien betrifft: Ich habe sie mehrfach umgearbeitet, die Reaktionen der Öffentlichkeit gefürchtet und den letzten Teil erst spät publiziert. Zunächst das erzkatholische Wien, dann die Nazis - in London war ich endlich außer Schussweite. (Ironisch): Als Autor kennen Sie ja die Probleme mit der Leserschaft.
MOSE (lacht): Haha, ich und Schriftsteller, Verfasser des Pentateuch, der Tora! Finden Sie es nicht auch großartig, dass ich im letzten der fünf Bücher selbst von meinem Tod als Hundertzwanzigjähriger erzähle? Ja, politisch und religiös habe ich aus den Juden etwas gemacht, das Schreiben aber habe ich Späteren überlassen. Freilich haben da ein paar Leute unter meinem Namen auch ziemlich viel Verworrenes produziert.
FREUD: Ich möchte Sie verständlicherweise viel fragen. Fangen wir ganz vorne an. Über Ihre Aussetzung und Errettung brauchen wir kein Wort zu verlieren, dieses Muster kehrt in antiken Heldenbiographien regelmäßig wieder und ist auch psychoanalytisch gut deutbar: Das Kästchen meint den Uterus, die Aussetzung die Geburt, der Nil das Geburtswasser. Aber wie lebte es sich als Kind am Hof des Pharao? Und was war mit dem Vater?
MOSE: Lieber Professor - die Details meiner historischen Existenz kann ich leider nicht preis-geben. Soll ich Juden, Christen und Moslems in Verwirrung stürzen, Historiker und Theologen um ihre Hypothesen bringen, Künstler und Literaten um ihre Phantasie? Hätte mich etwa Herr Michelangelo als realen Menschen gekannt, er hätte mich nicht in Stein gehauen, mitsamt diesen komischen Hörnern. Und Sie hätten nichts über seinen Moses schreiben können.
FREUD: Schade, ich muss es freilich akzeptieren. (Zieht ein Etui aus seinem Anzug.) Eine Zigarre gefällig?
MOSE: Besten Dank, aber für Rauchopfer hat der Chef bestimmte Vorschriften erlassen, und Tabak kommt da nicht vor. Außerdem habe ich seit der Geschichte mit dem Dornbusch einen Horror vor allem, was vor meiner Nase brennt oder glost.
FREUD (steckt das Etui wieder ein): Dann will ich Sie nicht derangieren. Ihre hebräische Amme hat Sie wohl als Säugling so tüchtig gestillt, dass Sie jetzt keine orale Befriedigung mehr nötig haben. Was bei mir die täglichen 20 Zigarren auf Dauer anstellen werden, daran denke ich lieber nicht. Von Ihrer Pyrophobie kann ich Sie übrigens gerne in ein paar Sitzungen befreien. Meine Honorarsätze sind freilich nicht ganz niedrig; aber eine Behandlung, die nichts kostet, ist nichts wert. - Und nun zu Ihrem Chef: Sie wissen wohl, dass ich den Glauben an ihn für eine Illusion halte. Gott ist eine Projektion nach dem Modell des Urvaters.
MOSE: Die Illusion ist jedenfalls ziemlich zählebig. Was die Projektion betrifft - nun ja, ich habe den Chef auch schon ziemlich lange nicht mehr gesehen und man könnte in der Tat mit Nietzsche meinen, dass er tot ist. Haben Sie eigentlich gewusst, dass er verheiratet war, damals als oberster Boss bei den Ugaritern? Seine Frau kennt man als Astarte oder Ishtar. Aber sie ist von der Bildfläche verschwunden wie alle diese kanaanitischen Typen. Früher haben sie sich regelmäßig zu Sitzungen getroffen. Doch der Chef - er hieß damals noch nicht Jahwe, sondern kurz und bündig El - hat im Lauf der Zeit alle Agenden an sich gezogen und den Laden im Alleingang übernommen.
FREUD: Der Übergang vom Polytheismus zum Monotheismus hängt natürlich eng mit dem Vatermord in der Urhorde und den daraus resultierenden Schuldgefühlen zusammen. Man sieht den Eingottglauben zunächst im Sonnenkult unter Amenophis IV. in Ägypten auftauchen, von dort bringen Sie ihn zu den Juden (samt Beschneidungsritual), und hier hält er sich beharrlich bis heute, mit einem Ableger im Islam. Bei den geistig hochstehenden Griechen passiert nichts dergleichen, die erfinden dafür die Philosophie. Dazu als interessantes Gegenstück die Wiederkehr des Verdrängten: Das Christentum rudert vom Monotheismus wieder eifrig zurück, mit Trinität und Heiligenkult. (Das Handy in Moses Hosentasche läutet.)
MOSE: Entschuldigen Sie, Professor. (Nimmt den Anruf an.) Ja bitte, Moshe hier . . . Oh, das freut mich aber sehr . . . Ja, mache ich natürlich gerne . . . Wo? Berg Horeb? Geht nicht wegen der Saudis . . . Qumran? Ja, das ist gut, dort sind zur Zeit kaum Touristen . . . Darf ich fragen, mit wem ich gesprochen habe? . . . Ah, mit Mirjam - sind Sie nicht die vielbeschäftigte Vorzimmerdame für die katholische Abteilung? Gut, dann also bis morgen - ich werde mir ein Taxi organisieren. Shalom, Mirjam. (Steckt das Handy wieder ein.) Was sagen Sie - der Chef will nach 2000 Jahren seine Väterkarenz beenden und wieder ins aktive Leben zurückkehren. Und ich soll ihn morgen treffen. Bin neugierig, ob er sich verändert hat.
FREUD: Steintafeln für neue Gesetze sollen Sie aber nicht mitbringen, oder?
MOSE: Davon war nicht die Rede. Bin auch froh, denn die letzten waren ziemlich schwer zu schleppen.
FREUD: Die Tafeln - wozu diese Gebote, wozu die Dogmen? Man gängelt die Menschen damit, blockiert die Entfaltung ihrer geistigen Kräfte. Und irgendwann ziehen sie mit dem Schwert gegen die Ungläubigen oder zünden Scheiterhaufen an.
MOSE: Wenigstens haben die nachantiken Juden keine Heiligen Kriege mehr angefangen, im Gegensatz zu Christen und Moslems.
FREUD: Sie hatten auch kaum Gelegenheit dazu. Und der Zionismus war dann primär eine politi-sche Geburt, nicht eine religiöse.
MOSE: Ich weiß nicht, ob diese zweite Landnahme wirklich ein Segen war. Vielleicht hätte das Auserwählte Volk nach der Zerstörung des Tempels doch besser in der Diaspora bleiben sollen, als Leuchte für die Völker. Stattdessen hat es sich nochmals im Irdischen zu etablieren versucht. - Aber zur Religion: Was wird besser, wenn man sie den Menschen wegnimmt? Gar nichts. Man ruft die Herrschaft der Vernunft aus und errichtet Guillotinen, man postuliert die Befreiung des Menschen und baut den Archipel Gulag. Auch die Shoa war nicht das Werk von religiösen, sondern von politischen Fanatikern.
FREUD: Erinnern Sie mich nicht daran - die Anfänge mitzuerleben, war schrecklich genug.
MOSE: Das glaube ich gern. Aber Sie hatten ja auch mit subtileren Formen der Aggression zu tun, mit der Ablehnung und Bekämpfung der Psychoanalyse.
FREUD: Teilweise spielten da antisemitische Motive mit, deswegen habe ich vorsorglich den Nichtjuden C. G. Jung zum Präsidenten unserer Internationalen Vereinigung gemacht.
MOSE: Ungeachtet aller Widerstände hat sich die Psychoanalyse zu einem großen bunten Garten weiterentwickelt.
FREUD: Die Verzweigung war unvermeidbar, das wusste ich schon seit dem Bruch mit meinem Kronprinzen Jung. Ich habe viel in Bewegung gesetzt; ein allgemein anerkanntes wissenschaftliches System zu schaffen blieb mir aber versagt. Der Betrachtung des Seelenlebens und dem Umgang damit fehlt bis heute eine verbindliche Basis.
MOSE: Nun, auch so ist die Psychotherapie zu einem florierenden Wirtschaftszweig geworden.
FREUD (blickt auf seine Uhr): Entschuldigen Sie mich jetzt bitte. Muss für die "Jerusalem Post" heute noch einen Zwischenbericht über den Kongress schreiben - unter Pseudonym, versteht sich. Einen angenehmen Abend, wir sehen uns wohl morgen wieder.
MOSE: Shalom, Professor.
FREUD: Bis bald, Moses. (Entfernt sich.)
MOSE (setzt sich wieder an seinen eigenen Tisch): Jetzt geht er sicher eine rauchen. - Dass ich den Freud hier treffe! Was der nur immer mit seinem Urvater hat - als Analytiker und Therapeut steckt er doch auch immer ein Stück weit in dieser Rolle. Und hat halt auch bei manchen Krankengeschichten etwas nachgeholfen zur Unterstützung seiner Theorien. Na ja. Ob er wohl noch kokst? - Werde mir jetzt das Taxi für morgen bestellen und dann einen Drink an der Bar genehmigen, oder vielleicht auch zwei . . . Diesbezüglich war der Chef immer recht liberal. Wenn die Moslems das anders sehen wollen, ist das ihre Sache.
Vom Hotel her kommt dezente Tanzmusik. Mose trinkt sein Cola aus und geht.
Stefan Nebehay, geboren 1950 in Wien, Prähistoriker, Numismatiker, Archivar und Antiquar.