Die Verlagerung der Twinings-Produktion nach Polen sorgt bei den Briten für Groll. | Das britische Aushängeschild als Globalisierungsopfer. | London. Ihre Tea Time wissen die Briten bis heute zu schätzen. Zumindest häusliche Geister, die das Lieblingsgebräu der Insel in Ehren halten. Wenn die BBC den Fünf-Uhr-Schlag des Big Ben im Radio überträgt, köchelt noch immer in Tausenden von Küchen des Königreichs simultan das Wasser. Bei einem Tässchen Tee und einem Keks lässt sich zur Hektik des Lebens Abstand gewinnen. Zur Tea Time sieht die Welt ganz anders aus.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 14 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Kaffee sollen ruhig die Kontinentalen trinken. Vom Buckingham-Palast bis zu den letzten Reihenhäuschen Glasgows oder Birminghams bevorzugt man, was schon Sir Edmund Hillary bei seiner Everest-Erstbesteigung "Freude und Kraft" verlieh. So sehen sich die Erben des Empire als eine Nation himmelstürmender Tee-Genießer. Den Cappuccino-Vorstoß von Starbucks und der Café-Nero-Kette auf ihren High Streets - die neuen Präferenzen der Jugend - blenden sie lieber aus.
Auch dass unter den meisten Teetrinkern längst die authentische Zeremonie - das Anwärmen der Kanne, das dampfende Aufbrühen der Blätter - einer eiligeren Praxis zum Opfer gefallen ist, bleibt eher unerwähnt. Dass man inzwischen selbst in feinen Restaurants in London bei der Bestellung von Tee nur noch einen schlaff und geschmacksneutral im lauwarmem Wasser schwimmenden Beutel serviert bekommt, ist bereits weithin akzeptiert. Königin Victoria hätte das wenig beeindruckt. Den Zeitgenossen Elisabeths II. aber reicht das Wissen, dass in Großbritannien alle vierundzwanzig Stunden noch immer 165 Millionen Tassen Tee konsumiert werden. Wenn das nicht ein Beweis ist für den Tee-Enthusiasmus der Insel - was dann?
300 Jahre Teekultur
Vor diesem Hintergrund ist nur allzu verständlich, welchen Groll die jüngsten Ereignisse um das Traditionshaus Twinings ausgelöst haben. Die über 300 Jahre alte Tee-Marke droht nämlich demnächst (welche Schande!) ihren urtypischen britischen Charakter zu verlieren. Verpackung und Versand des Twinings-Tees für den europäischen Markt sollen nicht mehr, wie seit Anbeginn der Zeit, in England beheimatet sein. Stattdessen wandert dieser Teil der Twinings-Produktion nun nach Polen.
Und nicht nur das. Der Twinings-Eigner, der globale Nahrungsmittel-Konzern AB Foods, will sich die Produktionsverlagerung mit einer 10-Millionen-Pfund-Beihilfe aus der Kasse der EU erleichtern. Außerdem fliegen die AB-Foods-Bosse bereits die ersten polnische Arbeitskräfte ein, damit diese von den Briten, die nächstes Jahr ihre Twinings-Jobs verlieren, eingearbeitet werden können.
Kein Wunder, dass in Twinings sterbender Teefabrik in North Shields in Nordengland die Volksseele kocht. Dass sie als Steuerzahler via EU ihre eigene Entlassung finanzieren und dann auch noch den "Arbeitsplatz-Räubern" aus dem Osten erfolgreichen Teeverkauf beibringen sollen, geht den Briten gründlich gegen den Strich. Auch das Twinings-Hauptquartier in Andover in Hampshire soll kräftig schrumpfen. Nur für den "Hausgebrauch", also für britische Teetrinker, wird weiter Twinings-Tee in England produziert werden.
Den Weltmarkt sollen Polen, Inder und Chinesen beliefern. Was hätte wohl die alte Twinings-Familie dazu gesagt, die mit dem Tee in London ein mächtiges Handelshaus begründete, das ganz natürlich seinen Sitz an der Themse haben musste? Das auf Gunpowder Green und anderen kostbaren Sorten einen Weltruf begründete, den goldenen Löwen zum Firmenemblem machte, von Queen Victoria zum Hoflieferanten berufen wurde und später auch Kleinbürgern und der Arbeiterklasse im Lande das Oberschichts-Getränk schmackhaft machte?
Für den an Geschichte wenig interessierten AB-Foods-Boss George Weston, dessen Familie die Marke 1964 übernahm, sind jedenfalls "die Tage gezählt, in denen es Sinn machte, Tee ins Vereinigte Königreich zu importieren, um ihn dort zu verpacken und dann nach Australien zu verschiffen". Das Ganze sei, nüchtern betrachtet, "ein globales Geschäft" und brauche "Fabriken an den richtigen Plätzen". Im Zuge der Profitabilität versucht sich Englands goldener Twinings-Löwe also auf Samtpfoten davonzustehlen. Für Weston ist von Bedeutung, was Tea Time im Osten - in diesem Falle auf Polnisch - heißt.