Für viele junge Menschen ist nicht mehr wichtig, gewisse Dinge zu besitzen.
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Im Kosmos von Louis Vuitton zählen sie zu den Fixsternen. Ganz gleich ob in Paris, Mailand oder Wien, kein Schaufenster des französischen Luxusartikelherstellers kommt ohne die dunkelbraunen Taschen mit den charakteristischen messingfarbenen Miniaturlogos aus. Über den Preis wird in den Auslagen zumeist geschwiegen, nur wenn es sein muss, findet sich irgendwo ein kaum auszumachendes Etikett. Geld hat man schließlich, da spielen die 600 bis 1500 Euro, die man bezahlen muss, um eines der derzeit begehrtesten Modeaccessoires zu besitzen, keine Rolle.
Doch was, wenn doch? Oder wenn das eigene Budget zwar für eine oder zwei hochpreisige Taschen reicht, der gut gefüllte Kleiderschrank aber nach deutlich mehr passenden Begleitern verlangt? Für diese Fragen hat Petra Rozopol die richtige Antwort. Seit knapp einem Jahr vermietet die 31-Jährige über ihre Website rentluxurybags.at exklusive Handtaschen. Die Kundinnen, die zumeist zur Altersgruppe 23 bis 35 gehören, zahlen für ein Wochenende durchschnittlich 30 Euro, eine ganze Woche schlägt sich mit zehn Euro mehr zu Buche.
Rozopol trifft mit ihrem Geschäft den Nerv der Zeit. Immer weniger Menschen ist es wichtig, bestimmte Dinge tatsächlich auch zu besitzen. Nicht das Haben stellt einen Wert dar, sondern das Nutzen. Und genutzt werden können Dinge auch gemeinsam.
Die Ideen, was nicht alles geteilt werden kann, sprießen schon jetzt aus dem Boden. Über die Internetplattform Airbnb kann man etwa weltweit tausende Privatwohnungen tage- oder wochenweise mieten. Neben einer vollausgestatteten Küche und vielen anderen Annehmlichkeiten, die kein Hotelzimmer bieten kann, bekommt man hier als kleine Gratis-Zugabe noch das Gefühl, in einer fremden Stadt wie ein Einheimischer zu leben. Airbnb, das bei seiner Gründung im Jahr 2008 noch milde belächelt wurde, hat mittlerweile zehn Millionen Übernachtungen vermittelt und derzeit kommt alle zwei Sekunden eine weitere dazu.
Wer nicht nur kurzfristig, sondern für längere Zeit eine neue Bleibe sucht, kann heute über Plattformen wie Leihkarton.at auch schon Umzugskartons und eine Transportrodel mieten. Die deutsche Firma Art for rent bietet wiederum die Vermietung von Kunstwerken an, sollten die Wände in der neuen Wohnung eine unangenehme weiße Leere verbreiten. Selbst Dinge, die einem so gar nicht in den Sinn kommen würden, lassen sich heute ausleihen: etwa Back- und Ausstechformen mit den unterschiedlichsten Motiven oder Rollatoren für gehschwache Senioren.
Wirklich neu ist die Idee, wenig verwendete Dinge gemeinsam zu nutzen, freilich nicht. Landwirtschaftliche Genossenschaften, Maschinenringe oder Car-Sharing gibt es seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten. Doch vor allem im Endverbraucherbereich führten Verleiher aller Art bis vor kurzem ein Nischendasein: Über eine Car-Sharing-Plattform borgten nur Grüne und heillose Weltverbesserer ein Auto aus.
Dass die Sharing Economy - ja, den entsprechenden englischen Fachterminus gibt es bereits - heute unglaubliche Zuwachszahlen verzeichnet und vom "Time Magazine" unter jene zehn großen Ideen gereiht wird, die die Welt verändern, hat laut Experten wie Dorothee Landgrebe von der deutschen Heinrich-Böll-Stiftung vor allem mit dem Internet zu tun. Das Netz strukturiert die Verleihangebote nicht nur und macht sie zugänglich, sondern es hat auch zu einem Kulturwandel geführt. "Man vertraut nun viel eher Menschen, die man eigentlich nicht kennt", sagt Landgrebe. Ein entscheidender Faktor ist das vor allem, wenn Endverbraucher Dinge an Endverbrauer verleihen, wie etwa bei nachbarschaftsauto.de.
Laut einer vor kurzem von der Heinrich-Böll-Stiftung in Auftrag gegebenen Studie zählen dementsprechend auch die sogenannten Digital Natives, die mit dem Vertrauensvorschuss auf Bit-und-Byte-Basis bereits aufgewachsen sind, zu den stärksten Nutzern von Tausch- und Mietangeboten. Auch ist die Idee des Teilens dort von Anfang inhaliert worden, eigene CDs zu besitzen war spätens seit dem Aufkommen der Musiktauschbörse Napster in den frühen 00er Jahren zu einem Ding des vorigen Jahrhunderts geworden.
Überdurchschnittlich empfänglich für die Idee des gemeinsamen Verwendens ist aber auch eine Gruppe, die Landgrebe als kulturelle Avantgarde bezeichnet: Akademiker, Künstler und Studenten. Das Tauschen und Borgen passt hier zum Lebensstil: ein wenig post-materiell angehaucht, interessiert an neuen gesellschaftlichen Dynamiken - vor allem wenn sie das Kollektive betreffen - und in einer Innenstadtwohnung mit beschränkten Platzverhältnissen lebend. Zuviel Besitz belastet hier nur und Freunde oder Bekannte lassen sich eher mit einer interessanten Biografie oder einem neuen I-Phone beeindrucken als mit einem großen Auto. Im Gegensatz zu den Teilern der ersten Generation, die in den 70er und 80er Jahren vor allem von ihrem ökologischen Gewissen und der Idee der Ressourcenschonung angetrieben wurden, ist der Zugang heute aber vor allem ein pragmatischer. Gemietet oder ausgeborgt wird dann, wenn es einen Kostenvorteil verspricht und sich dank Internet oder Smartphone einfach organisieren lässt.
Der Boom der Sharing Economy macht aber längst nicht allen Freude. Vor allem die Hersteller von Markenartikeln sehen sich durch die neue Entwicklung bedroht, schließlich leben sie davon, dass ihre Produkte bei möglichst vielen Menschen einen Reflex des Besitzenwollens auslösen. Doch je größer die Zahl der Mieter und Teiler ist, desto geringer wird die Zahl der Käufer. Für innovative Unternehmen tun sich allerdings auch enorme Chancen auf, und da überrascht es wenig, dass etliche große Konzerne bereits ihre Claims in der Sharing Economy abgesteckt haben. So hat etwa Daimler sein revolutionäres Car-Sharing-Konzept Car2go, bei dem die Autos nicht an Mietstationen, sondern im ganzen Stadtgebiet abgestellt sind, mittlerweile in 18 Metropolen in Nordamerika und Europa etabliert. Bis 2016 will Daimler in 70 bis 80 Städten vertreten sein. In Wien, wo Car2go seit einem Jahr aktiv ist, wurden die 500 Smart des Unternehmens mittlerweile mehr als 700.000 Mal ausgeliehen. Auch BMW hat inzwischen ein ähnliches Modell auf die Beine gestellt. Noch einen Schritt weiter versucht Peugeot zu gehen: Der französische Autohersteller bietet an 80 Standorten nicht nur Pkw, sondern auch gleich noch Motorroller, Elektrofahrräder und Fahrräder im Verleih an - alles abgerechnet über ein und dasselbe Benutzerkonto.
Während die Automobilindustrie erst am Anfang der Entwicklung zum Servicedienstleister steht, haben manche Branchen diesen Schritt schon jetzt beinahe hinter sich. So gehen heute 55 bis 60 Prozent der verkauften Skier in den Verleih. Auch Segelyachten werden bereits im überwiegenden Maße für den Charterbetrieb produziert.
Wird also alles einmal gut werden und die "Nutzen statt Besitzen"-Bewegung den ausgewrungenen Planeten retten, obwohl es ihr - zumindest im Augenblick - primär eher um Ersparnis als um Ressourcenschonung geht? Die Antwort lautet wohl Jein. Denn auch hinter dem Mieten und Teilen lauert ein ökologischer Pferdefuß. Jede Woche den Baumarkt auf der grünen Wiese anzusteuern, um eine Bohrmaschine zu mieten, ist mit Sicherheit nicht umweltverträglicher, als einmal im Leben eine zu kaufen. Und wer ständig ein Car2go vor seiner Haustüre findet, wird künftig vielleicht weniger oft die U-Bahn nehmen.
Inwieweit die Sharing Economy den Ökologiegedanken künftig zu einer tragenden Säule machen wird, wagen derzeit allerdings nicht einmal Experten einzuschätzen. Festzustehen scheint nur Folgendes: Irgendwann in der nicht allzu fernen Zukunft werden wir auf das 20. Jahrhundert zurückblicken und uns fragen, warum wir so viel besessen haben.