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Tektonische Verschiebungen in der Geopolitik

Von Stefan Haderer

Gastkommentare
Stefan Haderer ist Kulturanthropologe und Politikwissenschafter. Alle Beiträge dieser Rubrik unter: www.wienerzeitung.at/gastkommentare

Von einer "Rückkehr der Geopolitik" ist in Europa irrtümlicherweise die Rede, denn geopolitisch ist unsere Welt immer schon gewesen.


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Das Jahr 2014 ist vergangen, globale und grenzüberschreitende Krisenherde halten die Welt aber weiterhin in Atem. Gespannt blickt die einerseits schockierte, andererseits oft auch hinters Licht geführte internationale Gemeinschaft auf Russland und Europa, auf Nordafrika und den Nahen Osten.

Hätte sich der Gemüsehändler Mohamed Bouzizi aus der tunesischen Kleinstadt Sidi Bouzid je erträumen lassen, dass seine Selbstverbrennung am 17. Dezember 2010 die Büchse der Pandora öffnen und einen unvorhersehbaren Flächenbrand in den arabischen Staaten entfachen würde? Als Märtyrer der Jasmin-Revolution ist sein Name in die Geschichtsbücher eingegangen, während man jetzt in Tunesien scheinbar wieder zu den republikanischen Wurzeln zurückkehren will: Mit Beji Caid Essebsi wurde ein Vertrauter des ersten gestürzten Staatspräsidenten Habib Bourghiba ins Amt gewählt.

Doch von einer "Demokratisierung der arabischen Welt" kann ebenso wenig die Rede sein wie von einer "Rückkehr der Geopolitik". Denn geopolitisch ist unsere Welt immer gewesen, nur war das Europa nie so bewusst wie jetzt.

Unbestreitbar ist, dass sich der diplomatische Umgang zwischen Nationalstaaten in den vergangenen Jahren geändert hat. Die USA sind im Ukraine-Konflikt sowie in ihrer Nahost-Politik an ihre Grenzen gestoßen. Mit den militärischen Reaktionen Russlands hatte kaum jemand gerechnet. Zusätzlich steht der Westen vor einer neuen Herausforderung: Einer Medusa mit einem Schlangenhaupt gleichen die entschlossenen IS-Kämpfer, die unter ihrem schwarzen Banner und unter Duldung der Golf-Emirate Angst und Schrecken im ethnisch und religiös heterogenen Nahen Osten verbreiten. Ihr Vordringen in bisher wenig berücksichtigte Gebiete wie den Kaukasus und Zentralasien ist nur noch eine Frage der Zeit.

Wie sinnvoll ist es unter diesen Umständen, den syrischen Präsidenten Bashar al-Assad, mit dem man sich so weit zumindest auf diplomatischer Ebene verständigen konnte, zu stürzen? Wäre dem Westen tatsächlich etwas an einer Befriedung der Region gelegen, so würde man sich auf mehr Dialog und Zusammenarbeit mit den amtierenden Staatsoberhäuptern und den lokalen Anführern konzentrieren, anstatt Rebellen mit Expertise und Waffen zu beliefern.

Große Sorgen sollte sich Brüssel auch um die Türkei machen. Trotz des klaren Bruchs zwischen den USA und der Türkei hält die EU an ihren Beitrittsverhandlungen fest, mögen sie noch so unrealistisch erscheinen. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan, der vor dem Ausbruch des syrischen Bürgerkrieges bewaffneten Islamisten Tür und Tor über die Grenze geöffnet hatte, hat sich nämlich unter starkem Beschuss der Medien vom Westen abgewandt. In welche Richtung die Türkei in den kommenden Jahren tendieren wird, ist Ende 2014 schwer zu sagen - von einer westlichen Orientierung, wie sie einst unter Kemal Atatürk eingefordert wurde, kann jedoch nicht mehr die Rede sein.

Dass die geopolitische Platte, die der Westen verzweifelt nach seinem Vorbild zu ebnen versucht, noch weitere Sprünge bekommen wird, scheint in Anbetracht dieser Entwicklungen mehr als gewiss.