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Tempo

Von Rotraud A. Perner

Wissen

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Gefahren suchen, daher auch schnelles Autofahren gehöre zum männlichen Erwachsenwerden dazu, meinte Hans-Peter Krüger, bezeichnet als "deutscher Verkehrsexperte", letzthin im Wochenmagazin "profil". Und er meinte auf Befragen, Leute könnten großteils mit Selbstbeschränkungen "umgehen".

So optimistisch bin ich nicht. Ich stimme Herrn Krüger schon zu, dass es Situationen gibt, "wo hohes Tempo überhaupt kein Problem darstellt" - ich ertappe mich auch immer wieder dabei, mich solchen hinzugeben (und schalte schuldbewusst zurück, weil: dass ich situationsgerecht fahren kann, weiß ich, aber was weiß ich von den Nachbarfahrern?). Aber ich schränke ein: Fahrbahnsituationen! Denn die psychischen Situationen, in denen man wähnt, hohes Tempo stelle "überhaupt kein Problem" dar, sind genau die, wo es ein Problem darstellt: Zeitdruck oder Konkurrenzdruck, zwei klassische Stress-Situationen.

"Unter Druck" - übrigens der Titel der Untergrundzeitschrift einer Wiener Sado-Maso-Initiative! - verändert sich zuerst die Wahrnehmung: sie verengt sich, man nimmt vieles nicht mehr zur Kenntnis, was man in weniger (vor allem auch muskulär!) angespanntem Zustand voll erblickt, erspürt, hört, riecht, schmeckt. Kennen wir doch alle: da hat man z.B. die Schlüssel verlegt und sucht sie, findet sie nicht, wird immer hektischer, aggressiver - irgendwann gibt man auf, lässt sich in den nächsten Fauteuil fallen, hebt die hingeworfene Zeitung auf oder das Sakko oder was auch immer - und da sind sie ja! Ebensolche Erfahrungen kann man im Supermarkt machen, wenn man kurz vor Ladenschluss noch schnell was eher Außergewöhnliches einkaufen möchte. Man irrt durch die Gänge, Fragen würde Zeit kosten, daher verzichtet man drauf, gibt auf, morgen ist ja auch noch ein Tag - und siehe: ein Lichtblick! Da strahlt einen das Gesuchte plötzlich an. Auch das eigenhändig abgestellte Auto findet man leichter, wenn man es langsam sucht, und ebenso eine Parklücke...

Auf Geschwindigkeit zu verzichten fällt deshalb so vielen Menschen schwer, weil sie von klein auf darauf trainiert wurden, im Wettbewerb der Geschwindere zu sein. Da noch immer viele "Schwarzpädagogen" darauf schwören, Kinder mit Konkurrenz und allenfalls Spott und Hohn auf Erfolg zu dressieren, hängt bei vielen schon von klein auf der Selbstwert am Sieg über die Konkurrenz. Das wird dann auch in der Sportberichterstattung verstärkt, wenn aufgejubelt wird, sobald der jeweilige Lokalmatador die Gegnerschaft "überrundet" oder "abgehängt" hat. Nur nicht Letzter werden, denn den beißen bekanntlich die Hunde (oder die Reporter)!

Wer seinen Selbstwert ans Siegen knüpft, steht unter stetem Erfolgsdruck - und genau der mindert die Leistung (außer sie wird kunstvoll balanciert und dieser Ausgleich ernsthaft trainiert - wie es Spitzensportler meist tun). Laien verstärken hingegen unwillkürlich den Druck - im Sinne des destruktiven "Mehr desselben" wie es Paul Watzlawick in "Vom Schlechten des Guten" (Piper) so sinnig beschrieben hat. Jeder Rivale wird zur Bedrohung der Selbstachtung, und da diese psychische Selbstgefährdung üblicherweise nicht bewusst wird, versucht man sie durch physische Aktion zu kompensieren. Man(n): Untersuchungen zeigen immer wieder, das Frauen in solchen Fällen defensiv und auf Versöhnung gerichtet handeln, statt Kampfangebote zu demonstrieren. Wer im Zeitdruck rast, signalisiert für andere solch ein Kampfangebot: die Autobahn als Rennstrecke. Geschwindigkeitsrausch als Kick gegen die latente Depression infolge drohenden eigenen Unterliegens und damit eingestandener Minderwertigkeit.

Autos sind auch Waffen. Man kann mit ihnen einschüchtern, nötigen, verletzen, morden - je nachdem, was man denkt, was "in der Situation" problemlösend wäre - z. B. den Gegner beseitigt. Wenn man denkt. Vernünftig denkt. Im Geschwidigkeitsrausch tut man das aber genau so wenig wie in anderen "euphorischen Zuständen".