Zum Hauptinhalt springen

Terror: Schwierige Notwehr

Von Matthias G. Bernold

Wirtschaft

Der Präsident des Obersten Gerichtshofs (OGH) im "Wiener Zeitung"-Interview über EU-Haftbefehl, Terrorbekämpfung und Freiheit, volle Gefängnisse und die Tötung eines Terrorverdächtigen in der Londoner U-Bahn.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 19 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

"Wiener Zeitung":Das deutsche Bundesverfassungsgericht hat das deutsche Gesetz zum EU-Haftbefehl für nichtig erklärt. Ein unter Terror-Verdacht stehender Deutsch-Syrer darf damit nicht nach Spanien ausgeliefert werden. Wie beurteilen Sie diese Entscheidung?Rzeszut: Das Urteil ist rechtsdogmatisch nachvollziehbar. Trotzdem ist die Entscheidung äußerst heikel - v.a. vor dem Hintergrund der kriminellen Entwicklung und der politischen Erfordernisse. Die Lösung der Frage geht natürlich ins Politische. Staatsbürger nicht an fremde Rechtssysteme auszuliefern, ist ein traditioneller Grundsatz und war bislang immer eine Selbstverständlichkeit.

Ist es überhaupt sinnvoll, von diesem Grundsatz abzugehen und so die staatliche Souveränität einzuschränken?

Dieser Standpunkt verliert umso mehr an Bedeutung, je näher die Rechtsordnungen zusammen rücken. Inzwischen ist in den meisten anderen Staaten eine faires Verfahren gewährleistet. Es gibt da eigentlich keinen Grund mehr, misstrauisch zu sein.

Nicht erst seit den Anschlägen in London wird in Europa eifrig an neuen Anti-Terrorgesetzen gebastelt, die die individuelle Freiheit immer mehr einschränken: Telefon- und Videoüberwachung, Datenspeicherung, Schnellverfahren. Wie stehen Sie dazu?

Es geht hier um die Abwägung zwischen individueller Freiheit und der Verantwortung des Staates, Sicherheit zu gewährleisten. Das ist ein altes Problem - nicht eins, das wir erst ein paar Wochen haben. Je nachdem, wie nahe der Konflikt ist, wie viele Menschen davon bedroht sind, muss man diese Frage jeweils sachadäquat, im Ergebnis mitunter unterschiedlich beantworten.

Sind die angedachten Maßnahmen gerechtfertigt?

Der Umgang mit emotional begründer, fanatischer Kriminalität ist schwierig. Anders als bei Betrügern, die kalkulieren, bevor sie ein Risiko in Kauf nehmen, funktioniert Abschreckung hier nicht. Jemandem, der bereit ist, sein Leben zu opfern, kann man nur beikommen, wenn man die Tat verhindert. Telefondatenspeicherung und Videoüberwachung von U-Bahnen halte ich angesichts der Bedrohung für legitim. Das ist leider der Preis, den wir für etwas zahlen müssen, wofür wir nichts können.

Letzte Woche wurde in der in der Londoner U-Bahn ein verdächtiger Brasilianer von der Polizei mit Kopfschüssen getötet. Ist das auch ein Preis, der zu zahlen ist? Etwa dafür, dass man einen Rucksack trägt oder einen Zuruf überhört?

Dieser Fall mutet nach Maßstäben unseres Rechtssystems - wo Notwehr nur in engen Grenzen zulässig ist - äußerst schwer verdaulich an und ist bei der nunmehr eröffneten Betrachtung im Nachhinein im Ergebnis selbstverständlich inaktzepabel. Andererseits aus der Sicht staatlicher Schutzverantwortung mit all den Schwierigkeiten ihrer Abwägung im Vornhinein: Was wäre die Alternative zu den tödlichen Schüssen? Dass ein Bombenattentäter sich und eine ganze U-Bahn in die Luft jagt, weil ein Einsatzorgan die Planrealisierung abwartet? Kein Exekutivbeamter schießt aus Jux und Tollerei. Der Beamte muss in Sekundenbruchteilen eine Entscheidung über Schuld und Unschuld des Verdächtigen treffen. Etwas, wofür wir im Gerichtsverfahren vielleicht Wochen Zeit haben.

Wäre eine polizeiliche Anordnung wie in London, wonach Verdächtige mittels Kopfschuss zu töten sind, auch in Österreich möglich?

Eine derartige Anordnung und ein derartiges polizeiliches Handeln können prinzipiell durch die gesetzlichen Kriterien gerechter Notwehr gedeckt sein. Der Polizist hat sogar die Verpflichtung, einen potentiellen Attentäter zu erschießen, wenn ein lebensbedrohender Angriff auf andere Menschen unmittelbar bevorsteht und kein anderes Mittel zur Verfügung steht.

Sie haben in der Vergangenheit immer wieder die Personalknappheit am OGH beklagt. Wie ist die Situation heute?

Anders als an den anderen beiden Höchstgerichten haben wir am OGH keine wissenschaftlichen Mitarbeiter, die den Richtern zuarbeiten. Das gibt es in keinem europäischen Land. Wir arbeiten derzeit an einer Kooperation mit den Universitäten, um über den Budgetbereich Sachaufwand Arbeitsleistungen "zuzukaufen". Ab Herbst sollten uns für den Bereich des Zivilrechts zwei bis drei Universitätsassistenten zur Verfügung stehen. Bis 2007 haben wir hoffentlich zehn dieser akademischen Mitarbeiter.

Die Gefängnisse sind überfüllt - immer mehr Menschen sitzen hinter Gittern. Viele Experten fordern einen verstärkten Einsatz von Alternativen zur Strafhaft, bzw. mehr bedingte Entlassungen. Ihre Ansicht?

Seit 2000 haben wir den Außergerichtlichen Tatausgleich auch bei Erwachsenen. Bereits jetzt werden 70 Prozent der Anzeigen nicht durch Richter, sondern im vorgerichtlichen Bereich abgewickelt. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich bin für die Alternativen zur Haft. Nur sollten es Richter sein, die das Strafrecht anwenden. Ich befürchte nämlich, dass sonst das Strafrecht seine Signalwirkung einbüßt. Ob eine bedingte Entlassung vertretbar ist, muss im Einzelfall untersucht werden. Zu sagen: Die Gefängnisse sind voll, jetzt entlassen wir eben die Leute bedingt, genügt nicht.

Das Gespräch führte Matthias G. BernoldZur Person

Johann Rzeszut wird am 5. März 1941 in Wien geboren. Eigentlich habe er Chemie studieren wollen, "aber das hätte zu lang gedauert". An der Juristerei fasziniert ihn der "Gedanke der Gerechtigkeit". Nach der Tätigkeit bei Oberstaatsanwaltschaft und Generalprokuratur kommt er 1987 an den OGH, wo er mit 1. Jänner 2003 die Präsidentschaft von Erwin Felzmann übernimmt. Rzeszut eilt der Ruf eines "Hardliners" voraus. Er selbst widerspricht: "Ein Hardliner im Sinn unsinniger Scharfmacherei sieht anders aus als ich."