Zum Hauptinhalt springen

Terroropfer Taliban

Von Michael Schmölzer

Politik

Jahrelang haben die Islamisten in Afghanistan Anschläge verübt, jetzt sind sie selbst Ziel des IS.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 3 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Wie schnell sich die Lage in Afghanistan ändern kann, wie rasch sich die Dinge wenden, haben die USA jetzt einmal mehr erfahren müssen: Nach den Anschlägen in unmittelbarer Nähe des Kabuler Flughafens am Donnerstag mit Dutzenden Toten saß Washington plötzlich mit den Taliban - den Todfeinden - in demselben Boot. Beide Seiten hatten Opfer zu beklagen, beide mussten eilig versuchen, die Sicherheitskontrollen zu verstärken, um eine weitere erwartbare Attacke abzuwehren.

Denn Taliban und USA haben mittlerweile einen gemeinsamen Feind, und das ist der Islamische Staat (IS), der in der afghanischen Provinz Khorasan einen Ableger hat. Für den IS sind die USA "Ungläubige" und die Taliban verachtenswerte "Abtrünnige". IS und Taliban haben sich in der Vergangenheit blutig bekriegt.

Der Afghanistan-Experte Markus Gauster vom Institut für Friedenssicherung und Konfliktmanagement der Landesverteidigungsakademie in Wien spricht bei dem jüngsten Anschlag in Kabul von einer "Krise in der Krise". Denn es dürfe nicht vergessen werden, dass es in Afghanistan hunderte verschiedene Milizen gebe. Die Taliban hätten sich in den letzten Jahren die Loyalität vieler dieser Gruppen erkauft, viele afghanische Akteure sind jedoch Feinde der Taliban geblieben.

IS als "wesentlicher Störfaktor"

Der IS sei immer wieder durch einige wenige - aber dafür umso spektakulärere - Anschläge aufgefallen. Das Phänomen IS trete nun medial stark in den Vordergrund - was den Terroristen die von ihnen erwünschte Publicity bringe, so Gauster. Das bedeute aber nicht, dass der IS in Afghanistan "besonders stark" sei: "Es geht hier nicht um militärische, sondern um terroristische Stärke", konstatiert der Experte. Der afghanische IS-Ableger sei nicht so mächtig, dass er "den Staatsbildungsprozess, in dem sich die Taliban befänden, strategisch stören könnte".

Gauster rechnet aber damit, dass der IS in Afghanistan weitere Terroranschläge gegen die Taliban und internationale Akteure verüben wird: "Das ist ein wesentlicher Störfaktor." Das, was die Taliban vor 10 bis 15 Jahren für den US-lancierten Staatsbildungsprozess gewesen seien, sei nun der IS für die Taliban - so könne man es laut Gauster "etwas verkürzt" formulieren.

Daneben müsse man die Anti-Terrorstrategie betrachten, die die USA nun wieder stärker im Auge hätten und dafür eine Minimalpräsenz in Afghanistan weiter aufrecht erhalten könnten. Hier seien die Interessen der USA die gleichen wie die Chinas und Russlands. Bestimmend sei die Angst, dass der Terror über die Grenzen ausstrahle. Und hier wären China und Russland durchaus gewillt, den Staatsbildungsprozess der Taliban zu unterstützen - wenn es dafür Hilfe bei der Bekämpfung diverser terroristischer Bewegungen gebe.

Doch wie stabil ist das Bündnis mit den verschiedenen afghanischen Gruppierungen, das die Taliban geschmiedet haben? Es gilt das afghanische Prinzip der wechselnden Loyalitäten. Man könne afghanische Milizen "nicht kaufen, sondern nur auf Zeit mieten", erklärt Gauster. Die Taliban seien im Vorfeld des eben erfolgten Umsturzes plakativ gesprochen "auf Einkaufstour" gewesen, so Gauster. Außerdem komme das Prinzip des Widerstandes zum Tragen - auf mehreren Ebenen. Es gebe Widerstand auf Basis der erstarkten afghanischen Zivilgesellschaft; auch afghanische Medien hätten an Stärke gewonnen. Es sei alles viel transparenter, etwa was Menschenrechtsverletzungen betreffe.

"Tradition des Widerstandes"

Zudem dürfe man laut Gauster den militärischen Widerstand nicht unterschätzen, den etwa die Milizen von Ahmad Massoud im Panschir-Hochtal im Nordosten von Kabul zu leisten imstande seien. "Hier ist die Tradition des Widerstandes stark verwurzelt", erläutert Gauster. Aber die entscheidende Frage sei, "wer sich nun international einmischt und diesen Widerstand unterstützt". Indien etwa habe Interesse, wieder an Einfluss zu gewinnen. Alles, was das Land in Afghanistan finanziert habe - Staudamm-Projekte, im humanitären Bereich sowie bei der Elektrifizierung - sei nun in Taliban-Hand, aber in gewisser Weise auch in pakistanischem Einflussgebiet. Indien habe umgekehrt die Möglichkeit, den Widerstand gegen die Taliban zu stärken.

Die EU spreche davon, dass man die "Kanäle zu den Taliban offen halten" müsse, "aber die Chinesen und Russen halten die Kanäle seit fünf Jahren offen". Es gelte das Motto: "Ihr könnt euer Emirat regieren, aber es darf kein internationaler Trainingsplatz für Terroristen sein." Dass jetzt mehr als ein Dutzend US-Marines gefallen sind, "macht die Sache extrem brisant", meint Gauster.