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Terrorsekte der Verzweifelten

Von Klaus Huhold

Politik

Der Ethnologe Roman Loimeier erklärt, warum Boko Haram so grausam agiert.


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Die Erfolgsmeldungen reißen nicht ab: In den vergangen Tagen hat die nigerianische Armee laut eigenen Angaben mehrere hundert Geiseln, hauptsächlich Frauen und Kinder, aus der Gewalt von Boko Haram befreit. Zudem wurden Camps der islamistischen Terrorsekte zerstört. Unterstützt wird die nigerianische Armee dabei von Truppen aus dem Tschad, Kamerun und Niger. Boko Haram gerät zusehends in Bedrängnis - und laut dem Ethnologen und Kenner der Region, Roman Loimeier, wird unter dem Ende März neu gewählten Präsidenten Muhammadu Buhari der Druck auf Boko Haram weiter steigen.

"Wiener Zeitung": Das Militär geht derzeit massiv gegen Boko Haram vor. Und der neu gewählte Präsident Nigerias, Muhammadu Buhari, stammt selbst aus dem Norden, der Region, in der Boko Haram wütet. Sind die Chancen gestiegen, dass die Terroristen nun besiegt werden können?

Roman Loimeier: Ja. Buhari hat schon Erfahrung als Staatschef in Nigeria. Diese Zeit Mitte der 1980er Jahre ist zwar vielen Nigerianern als sehr autoritär in Erinnerung geblieben. Ich war damals selbst in Nigeria, und wir waren etwa gezwungen, ab Samstagmittag zu Hause zu putzen, das nannte sich "sanitation day". Buhari hat sich inzwischen aber verändert. Er kommt selbst aus der Armee, kennt deren Kommandostrukturen, und im vergangenen Jahr war er selbst Ziel eines Boko-Haram-Anschlages. Das erklärt seine Motivation, dem Terror ein Ende zu setzen. Die nigerianische Armee geht mittlerweile viel koordinierter gegen Boko Haram vor. Möglicherweise könnte das Problem noch dieses Jahr weitgehend gelöst sein. Es werden aber wahrscheinlich einige kleinere Terrorzellen bestehen bleiben und versuchen, in die Nachbarländer zu wechseln. Und die sozialen Probleme, die zu diesem Konflikt geführt haben, werden nicht gelöst sein.

Dass Boko Haram so groß werden konnte - wie weit trägt dafür die Politik die Verantwortung?

Es handelt sich hier um ein Versagen des Staates, dessen Institutionen in Nordostnigeria, abgesehen von ein paar städtischen Zentren, nicht existieren, und der an den Bedürfnissen der Bevölkerung vorbeihandelt. Es gibt in dieser Region, verglichen mit anderen Landesteilen, etwa viel weniger Schulen oder Krankenhäuser, die Wasser- und Stromversorgung ist dort so schlecht wie nirgendwo sonst im Land. Das haben sämtliche Regierungen der Vergangenheit verschuldet, und das ist eine massive Grundlage für Rebellionsbewegungen. Die Leute haben nichts zu verlieren.

Gleichzeitig gibt es dort radikale salafistische Prediger, offenbar auch finanziert von den Golfstaaten. Wie weit zündelt das den Konflikt an?

Da muss man vorsichtig sein. Die meisten Opfer unter den religiösen Gelehrten, die Boko Haram ermordet hat, sind Salafi-Gelehrte. Sämtliche Moslems Nordnigerias haben sich gegen Boko Haram gestellt. Boko Haram ist religiös vollkommen isoliert und antwortet darauf mit Mord.

Wer sind sonst noch die Opfer von Boko Haram?

Ethnische Minderheiten in Nordnigeria, Christen und die moslemische Mehrheit, die sich nicht auf die Seite von Boko Haram stellt. Boko Haram agiert nach dem Motto: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns.

Hat Boko Haram überhaupt irgendeinen Rückhalt in der Bevölkerung?

Die Gruppe hat Rückhalt unter den Verzweifelten, die bei Boko Haram zumindest ein minimales Gehalt bekommen. Boko Haram bezahlt seine Kämpfer und bietet so ein soziales Gerüst. Wenn man alles verloren hat, ist das eine Absicherung.

Das heißt, die Rekrutierung läuft mehr über eine soziale als über eine religiöse Schiene.

Auf alle Fälle. Es gibt in der Boko-Haram-Bewegung seit 2010 keine religiösen Gelehrten mehr, sondern es handelt sich um muslimische militante Aktivisten. Die Leute, die rekrutiert werden, haben oft überhaupt keine religiöse Ausbildung, sie kämpfen einfach und werden auch als Kanonfutter verwendet.

Frauen, die in den Händen von Boko Haram waren, berichten von Vergewaltigungen, Väter werden vor ihren Kindern getötet, Dorfbewohner wahllos massakriert. Woher kommt diese Grausamkeit?

Ich denke, das hängt damit zusammen, dass der Gegner vorher schon entmenschlicht worden ist, dass er nicht als menschliches Gegenüber angesehen wird, sondern als Feind, den man töten muss. Und je grausamer man das macht, desto abschreckender ist die Wirkung. Die Menschen werden eingeschüchtert, damit sie sich nicht gegen die Terroristen stellen. Mit dieser unglaublichen Grausamkeit unterscheidet sich Boko Haram kaum von anderen Dschihad-orientierten Gruppierungen wie dem Islamischen Staat oder Al-Shabaab (in Somalia, Anm.).

Und wie finanziert Boko Haram seinen Krieg?

Über mafiöse Strukturen: Über Zwangsabgaben, bei denen die eigene Bevölkerung zur Kasse gebeten wird - mit Naturalien oder Geld. Zudem haben viele Banküberfälle stattgefunden. Und dann führt man im großen Stil Entführungen durch, um Lösegeld zu erpressen und die Bewegung zu finanzieren. Boko Haram bekommt aber - im Gegensatz etwa zu somalischen Al-Kaida-Gruppen - kein Geld von außen.

Ist Boko Haram überhaupt selbst eine homogene Einheit?

Bei Boko Haram herrschten von Anfang an interne Streitigkeiten, etwa darüber, wie man mit der Bevölkerung umgeht oder welche kurz- und langfristigen Ziele verfolgt werden.Diese Spaltungen haben sich im Laufe der Zeit verstärkt. Boko Haram ist längst in mehrere Gruppen zerfallen.

Boko Haram konnte eine Zeit lang immer größer werden - man hatte oft den Eindruck, dass die Regierung des nun abgewählten Präsidenten Goodluck Jonathan und auch das Militär wenig Anstalten machten, die Terroristen zu besiegen. Zeigt sich da auch eine Verachtung der Eliten gegenüber der Bevölkerung?Ja. Die Bevölkerung im Nordosten war von einer doppelten Verachtung betroffen: Die der Eliten gegenüber der einfachen Bevölkerung, wobei es egal ist, aus welcher Region diese Eliten stammen. Bei Goodluck Jonathan (der aus Südnigeria kommt, Anm.) kam dann auch noch die Verachtung der regierenden Elite des Südens, also der Erdöl produzierenden Gebiete, gegenüber dem Norden hinzu.

Muhammadu Buhari stammt zwar aus dem Norden. Aber wird mit seiner Präsidentschaft auch diese Haltung der Eliten gegenüber der Bevölkerung verschwinden?

Buhari kommt aus einer im Westen kaum bekannten intellektuellen Tradition Nordnigerias, die eine sozialrevolutionäre Ader hat und auf einen nordnigerianischen Politiker der 1950er Jahren zurückgeht, Aminu Kano. Dieser hat ein islamisch verankertes, fast schon revolutionäres soziales Programm zur Umgestaltung der nordnigerianischen Gesellschaft vorgeschlagen, durch das es den etablierten Eliten durch wirtschaftliche Reformen an den Kragen gegangen wäre. Deswegen denke ich, dass es unter Buhari tatsächlich zu Verbesserungen in Nordnigeria kommen könnte. Vielleicht sind diese zunächst nur marginal, aber das wäre immerhin schon etwas. Kano und Buhari stehen zudem für den Kampf gegen Korruption.

Wie sehen die Menschen in Nordostnigeria, wo die Boko-Haram-Hochburgen sind, derzeit den Staat?

Als jemanden, der entweder nicht existent ist oder der nimmt. Es gibt in Nigeria aber auch Gebiete, etwa im Südwesten oder Teilen des middle belt, in denen das Gemeinwesen funktioniert. Warum also nicht im ganzen Land?

Roman Loimeier ist Professor am Institut für Ethnologie der Universität Göttingen. Er ist Experte zu islamischen Gesellschaften in Afrika und forscht und publiziert seit Jahren zu diesem Thema. Loimeier war kürzlich bei dem Symposium Blickpunkt Boko Haram: Ansichten abseits des Mediendiskurses zu Gast, das von Studierenden des Instituts für Afrikawissenschaften der Universität Wien organisiert wurde.