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Tests an Kindern sind für Prognosen unbrauchbar

Von Ernst Smole

Gastkommentare
Ernst Smole war Berater mehrerer Bildungsminister und koordiniert ein rund 50-köpfiges multidisziplinären Team, das am "Unterrichts:Sozial:Arbeits-und Strukturplan für Österreich 2015 - 2030" arbeitet (www.ifkbw-nhf.at).
© privat

Sogenannte evidenzbasierte Entwicklungsprognosen dienen nicht der Suche nach Stärken, sondern der Jagd nach oft nur scheinbaren Defiziten.


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Fachleute bezeichnen Kinder als "wandelnde Entwicklungspotenziale". Diese Sicht stellt diverse Tests an Kindern in Frage. Die schicksalhafte (Nicht-)Mobilisierung kindlicher Entwicklungspotenziale ist von unzähligen fördernden, bremsenden oder verhindernden Zufällen abhängig: Welche Kinder treffen die Tester? In die Hände welcher Lehrpersonen geraten die Kinder? Welche Interessen stimulierende Erlebnisse haben sie? Widmen sich die Eltern mehr ihren Kindern oder mehr ihren Smartphones? Die Liste dieser Zufallsfaktoren ist schier unendlich.

Die einzige Evidenz, die Tests an Kindern schaffen können, ist, dass man ihr "evidentes" Verhalten im Moment des Tests beschreiben kann, zum Beispiel: "Lisa hat mir gut zugehört, hat gebannt auf meine Halskette geblickt und keine einzige meiner Fragen beantwortet." Das sind die einzigen Evidenzen, die legitimerweise aus so einem Test zu ziehen sind - aber jede Art von Prognose ist aus wissenschaftlicher Sicht unzulässig, eben weil Kinder "geballte Entwicklungspotenziale" sind.

Übrigens: Schüchterne Kinder werden nach solchen Tests fast immer als unbegabt eingestuft. Wenn eine auf Musikalität getestete Dreijährige ein trauriges Kinderlied glockenrein sauber und perfekt im Takt singt und wegen des traurigen Inhalts in Tränen ausbricht, liegt man sicher richtig, wenn man diesem Kind eine musikalische Hochbegabung und eine starke künstlerische Erlebnisfähigkeit attestiert. Nur: Um dies festzustellen, bedarf es keines Tests, denn diese Begabung sollte den Eltern und Pädagogen schon längst aufgefallen sein.

Doch was unternimmt das offizielle System Schule für diese Hochbegabten, wenn sie durch amtliche Tests auch offiziell manifest werden? Schlichtweg gar nichts, denn diese Tests verstehen sich als Instrumente einer Negativselektion. Sie dienen also nicht der so wichtigen Suche nach Stärken, sondern der Jagd nach oft nur scheinbaren Defiziten. Oft wird eine extreme Interessenfähigkeit, die sich in einer zwangsläufig rotierenden Aufmerksamkeit dokumentiert, als Konzentrationsschwäche missgedeutet.

Leider fällt Österreichs Bildungspolitik teils auf geschäftstüchtigen Testingenieure herein. Derartige Tests werden auch nicht sinnvoller, wenn branchenfremde Spitzenforscher sie propagieren. Hier geht es schlicht um ein falsches Verständnis des Begriffes "wissenschaftliche Evidenz". Sinnvoll ist allein die qualifizierte Langzeitbeobachtung durch das angestammte Personal, also durch aufmerksame, tertiär ausgebildete (in Hinblick auf Diversität, Kommunikation, Entwicklungspsychologie, Sprache) und adäquat bezahlte Kindergartenpädagoginnen (Männer sind hier ja immer noch kaum vertreten).

Es gibt zahlreiche Biografien von Opernsängern, die im Kindesalter als "unmusikalisch" eingestuft worden waren, von als "bewegungsmäßig extrem unbegabt" getesteten Rock’n’Roll-WM-Teilnehmern oder von als "Quasi-Autist" Bewerteten, die als Bundesschulsprecher erfolgreich wurden.

Daher: Schluss mit Kleinkindtests zugunsten emphatischer Langzeitbeobachtung.