)
Das Gemini-Programm 1: Vor 50 Jahren gingen die USA im Wettlauf zum Mond zum ersten Mal vor der UdSSR in Führung.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 10 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Das Sternbild der Zwillinge heißt offiziell und lateinisch "Gemini". Einen treffenderen Namen hätte die NASA für ihre zweite Raumschiff-Generation gar nicht finden können. Dieses Gefährt bietet 1965 erstmals zwei US-Astronauten Platz. Sie sollen darin bis zu zwei Wochen ausharren und ein zweites Raumfahrzeug im Orbit ansteuern. Die Amerikaner wollen jene Fertigkeiten erlernen, die für die späteren Mondflüge Voraussetzung sind. Der Ausstieg von Menschen ins freie All gehört dazu, ebenso eine möglichst punktgenaue Landung. Die Ziele sind ehrgeizig. Bislang gingen alle Raumfahrtpremieren nämlich aufs Konto Moskaus. Und niemand weiß, was die UdSSR noch plant.
Zwei Männer im All
Zu Testzwecken schießt die NASA ihr neues, stolzes Schiff zweimal unbemannt hoch. Dann erst, am 23. März 1965, schnallt man Virgil Grissom und John Young in der Gemini 3 fest. Ihr Flug soll die 22 Monate währende Pause der bemannten US-Raumfahrt beenden. Grissom ist schon in der Mercury geflogen. Sie war beklemmend eng, zumal man die verschiedenen Systeme direkt in der Kapsel unterbringen musste: auch die Energieversorgung oder das Lebenserhaltungssystem. Das ist jetzt alles ins weiße, zweiteilige Antriebs- und Servicemodul verbannt. Mit diesen beiden ringförmigen Zusätzen erreicht die Gemini eine Höhe von 5,7 Metern.
Doch der riesenhafte Eindruck täuscht. Auf den Vordersitzen eines VW-Käfers besäßen die Astronauten ähnlich wenig Bewegungsfreiheit. Das Mannschaftsmodul ist schmächtig geblieben. Es misst an seiner Basis bloß 2,3 Meter. Nach oben hin verjüngt es sich auch noch rasch. Das Innere wird von acht Instrumentenpanelen und zwei Schleudersitzen ausgefüllt. Dazwischen sind die Astronauten eingeklemmt.
Schon die einsamen Mercury-Piloten durften ihre Kapseln im Orbit selbst um alle drei Achsen drehen, also die Ausrichtung (engl.: "Attitude") des Schiffs im Raum regeln. Die rund drei Tonnen schwere Gemini kann sehr viel mehr: Die insgesamt 16 Triebwerke ihres "Orbit Attitude and Maneuvering System" (OAMS) besitzen genug Kraft, um sogar die Flugbahn zu verändern - ein absolutes Novum in der Raumfahrt.
Die Gemini 3 rast zunächst mit 28.000 km/h um die Welt. Mithilfe des OAMS bremsen sie die Astronauten um 56 km/h ab. Das ändert die Umlaufbahn, reduziert die Flughöhe. Nach zwei weiteren Zündungen ist der erdfernste Punkt von 224 auf 169 Kilometer gesunken. Schon feuern die vier Bremsraketen am Heck des Schiffs los. Infolge stürzt die Gemini unaufhaltsam Richtung Erde. Das zweiteilige Zusatzmodul am Heck wird abgesprengt. In der langgestreckten Nase der Kapsel warten drei Fallschirme auf ihren Einsatz.
Zu allerletzt entfaltet sich der fast 26 Meter weite Hauptfallschirm. Nach nur fünfstündigem Flug taucht die Gemini 3 in den Atlantik ein, rund 100 Kilometer vom angepeilten Landeort entfernt.
Live im Fernsehen
Der Start der Gemini 4 folgt am 3. Juni 1965. Erstmals erleben ihn auch die Europäer live im TV mit, dank des nagelneuen Fernsehsatelliten Early Bird. James McDivitt und Edward White reiten an der Spitze einer drei Meter dicken und 27 Meter hohen Titan II-Rakete ins All. Sie ist der stärkste Träger für amerikanische Atomsprengköpfe. Die beiden Triebwerke ihrer ersten Stufe feuern 140 Sekunden lang; anschließend sorgt das Triebwerk der zweiten Stufe weitere 183 Sekunden für Schub.
Im Funk ertönt McDivitts Stimme in Staccato. Er und sein Kollege werden vom gefürchteten "Pogo-Effekt" durchgerüttelt. Druckänderungen im Raketentriebwerk führen zu argen Schwingungen; schaukeln sich diese auf, könnten sie die Titan-II sogar auseinander reißen.
Die Gemini 4 gelangt jedoch sicher in ihre Umlaufbahn. Die zweite Stufe hetzt hinterher. McDivitt will sich an die ausgebrannte Rakete heranbremsen. Doch dadurch fällt sein Schiff in eine tiefere Bahn mit kürzerer Umlaufszeit. Infolge nimmt der Abstand zur Raketenstufe zu, nicht ab: Man muss sich mit den orbitalen Spielregeln erst vertraut machen.
Der Schritt ins Freie
Die Männer tragen Raumanzüge. Daher dürfen sie den Druck aus ihrer Kapsel entweichen lassen. Dann öffnet White die Luke. Ursprünglich sollte er nur seinen Kopf und seine Schultern ins All hinausrecken. Doch Alexei Leonow hat ihm die Show gestohlen: Der Russe trieb schon zweieinhalb Monate zuvor ganze 12 Minuten lang neben seiner Woschod 2 her. Dass sein Wiedereinstieg im steifen Anzug zum Überlebenskampf geriet, weiß in den USA niemand.
Nach Leonows "Weltraumspaziergang" hat die NASA umdisponiert und White im Geheimen ebenfalls für einen richtigen Ausstieg üben lassen. Daher schwebt der US-Amerikaner nun zur Gänze ins Freie hinaus, nur durch eine Art "Nabelschnur" mit der Kapsel verbunden. In der Rechten hält er eine pistolenförmige Steuerungseinheit. Sie stößt auf Wunsch komprimiertes Gas aus. So kann White ein wenig manövrieren.
Er mustert die Gemini aus fünf Metern Distanz, genießt sein Abenteuer und dehnt es ordentlich aus. Funkprobleme helfen ihm dabei: Doch das Schiff rast auf den stockdunklen Erdschatten zu. So zwängt sich White nach rund 20 Minuten widerwillig in die Kapsel - ein Moment, den er als "den traurigsten" seines Lebens beschreibt. Nun hat man die Russen nicht nur eingeholt, sondern sogar übertrumpft. Selbst der KGB ist überrascht.
Wieder im Schiff, versucht White die Luke zu schließen. Vergeblich. Den Wiedereintritt würde man so nicht überleben; entsprechend verbissen mühen sich die Astronauten mit dem störrischen Teil ab. Endlich ist wieder alles dicht. Auf ein nochmaliges Öffnen der Luke wird verzichtet. Die NASA will das Glück nicht überstrapazieren.
Als erstes Raumschiff der Welt verfügt die Gemini 4 über einen Bordcomputer. Der hilft beim Navigieren, Steuern und Landen. Allerdings fällt der Rechner im 48. Umlauf aus - weshalb die Kapsel satte 80 Kilometer fern des vorgesehenen Orts wassert.
Trotz des abermals starken Pogo-Effekts kommt auch die Gemini 5 am 21. August 1965 wohlbehalten in den Orbit. Im Auftrag des US-Verteidigungsministeriums schießen Gordon Cooper und Charles Conrad hochauflösende Fotos der Erdoberfläche. Dabei überfliegen sie auch Kuba, China und Vietnam, wie man in Moskau sehr wohl registriert.
Um das neue Radargerät zu überprüfen, setzen die Astronauten einen 35 kg schweren Testsatelliten aus. Dann versuchen sie, ihm mit dem Schiff zu folgen. Doch das Manöver muss nach Problemen mit der Energieversorgung abgebrochen werden. Die Gemini verfügt erstmals über Brennstoffzellen. Sie nützen die chemische Reaktion von Wasserstoff und Sauerstoff zur Stromerzeugung; ein willkommenes Nebenprodukt ist Trinkwasser. Diese Erfindung soll Langzeitflüge möglich machen. Aber jetzt, bei der Premiere, sinkt der Druck im kleinen "Bordkraftwerk". Das führt zu einer Energiekrise. Die Männer frieren.
Im Kontrollzentrum
Bis zu 370 Messwerte der Gemini werden überwacht und nach Houston, Texas, übertragen. Dort laufen die Daten über die rund 30 Konsolen des neuen Kontrollzentrums. Die Techniker vor den Schirmen melden jede Abweichung dem Flight Director (kurz "Flight" genannt). Während die Astronauten alle 90 Minuten einen neuen Sonnenaufgang erleben, ist das Tageslicht aus dem Kontrollraum ausgesperrt; auch die normale Uhrzeit besitzt hier keine Gültigkeit. Man lässt die Uhren lieber ab dem Start der Rakete laufen. Drei Teams wechseln einander hier ab. Jedes arbeitet zehn Stunden lang, wobei die ersten und die letzten 60 Minuten der Übergabe dienen. Wie sich der legendäre "Flight" Gene Kranz erinnert (im Filmdrama "Apollo 13" wird er vom US-Schauspieler Ed Harris verkörpert), riecht es nach Zigarettenstummeln, kaltem Kaffee und Pizzaresten. Überall kullern die Aluminium-Büchsen des fast antiquiert wirkenden Rohrpostsystems herum. Es dient der Kommunikation zwischen den drei Stockwerken.
Die Teammitglieder nächtigen auch im Kontrollzentrum. Wer nach getaner Arbeit nicht abschalten kann, dem empfehlen die Militärärzte zwei Schuss Whisky. Wer nicht trinkt, erhält Schlaftabletten. Wer auch die verweigert, dem bleibt das "Schäfchenzählen" - erzählt Kranz.
Der Flugzeitrekord stammt aus dem Jahr 1963. Die sowjetische Wostok 5 blieb damals 119 Stunden oben. Die Crew der Gemini 5 bekommt ihr Energieproblem in den Griff und hält ganze 191 Stunden durch. Conrad spricht später von "acht Tagen in einer Mülltonne".
Cognac in Athen
Um die Kongressabgeordneten bei Laune zu halten, werden die Astronauten immer wieder auf Tour durch die USA geschickt. Bis zu drei Vorträge pro Tag stehen auf dem Programm - ein ungeliebter Job. Nach außen hin gibt sich das Astronauten-Corps harmonisch. Hinter vorgehaltener Hand spricht man allerdings von "freundschaftlichen" Rivalitäten zwischen den Air Force- und den Navi-Piloten.
Die russischen Kosmonauten erfahren von den Erlebnissen der US-Amerikaner aus der Presse. Im September 1965 lernen sich die Konkurrenten persönlich kennen, beim 16. internationalen astronautischen Kongress in Athen: Dort treffen Alexei Leonow und Pawel Beljajew (beide flogen mit der Woschod 2) auf Conrad und Cooper, die gerade von ihrer Gemini 5-Mission heimgekehrt sind. Die Verständigung ist schwierig; es wird heftig gestikuliert. Gemeinsam trinkt man Cognac und verbringt einen Tag auf Onassis‘ Jacht.
Die ehemaligen Test- und Kampfpiloten aus Ost und West stehen vor ähnlichen Herausforderungen. Sie empfinden Verbundenheit. "Als wir uns trennten, fühlte sich das an, als wären wir alle Mitglieder einer Crew", notiert Leonow. Am 30. September klagt sein Ausbildungsleiter Nikolai Kamanin über die mangelnde Unterstützung durch die staatliche Führung: Die sowjetische Raumfahrt sei daher bereits ins Hintertreffen geraten, vertraut er seinem Tagebuch an.
Das Rendezvous
Nähert man sich einem anderen Objekt gezielt, um dann kontrolliert Abstand zu halten, spricht man von einem "Rendezvousmanöver". Die hohe Kunst aber ist das Andocken. Für die Gemini 6 soll eine unbemannte Atlas-Agena Rakete das "Objekt der Begierde" spielen. Doch die plumpst in den Atlantik.
Deshalb wird der Start der Gemini 6 verschoben, und zwar auf den 12. Dezember. Walter Schirra und Thomas Stafford fiebern dem Ende des Countdowns entgegen. Die Triebwerke donnern pünktlich los, hüllen alles in Rauch ein. Doch nach 1,2 Sekunden schalten sie wieder ab. Die vollbetankte, 136 Tonnen schwere Titan-II erbebt. Alles hält den Atem an. Wird sie auf die Rampe zurückfallen, auseinanderbrechen und detonieren?
In derart geringer Höhe gerieten selbst die Schleudersitze zur Todesfalle. Ein raketenbestückter Rettungsturm an der Kapselspitze könnte die Gemini jetzt wegreißen; doch auf ihn wurde aus Gewichtsgründen verzichtet. Zum Glück hat der kurze Schub gerade nicht zum Abheben der Rakete gereicht. Als der Rauch verzogen ist, wird klar: Die Titan steht noch fest auf dem Rampentisch.
Mittlerweile befindet sich bereits die Gemini 7 im Orbit. Frank Borman und James Lovell sollen damit einen Langzeitflug absolvieren. Als endlich auch die Gemini 6 abhebt, betreiben die USA erstmals zwei Schiffe gleichzeitig im All. Die Russen haben das bereits 1962 und 1963 geschafft. Sie führten damals jeweils zwei Wostoks bis auf 5 Kilometer Abstand aneinander heran. Die NASA gibt sich mit einem solchen "Gruppenflug" aber nicht zufrieden.
Ihre Gemini 6 hält ohne Zögern auf das Schwesterschiff zu. Radargerät und Bordcomputer erleichtern das heiß ersehnte Tête-à-Tête. Schließlich liegen nur noch 30 Zentimeter zwischen den Nasen der Kapseln. Die Crews blicken einander praktisch in die Augen. Nur Andocken ist kein Thema: Die beiden Schiffe besitzen den gleichen "männlichen" Docking-Adapter - das "weibliche" Gegenstück saß vorne auf der Agena.
Die Gemini 6 bleibt bloß 26 Stunden im Orbit. Dennoch feuern ihre 16 OAMS-Triebwerke dabei insgesamt 35.000 Mal. Die Wasserung erfolgt erstmals hochpräzise, mit einer Abweichung von nur 13 Kilometern. Die Crew der Gemini 7 harrt deutlich länger aus. An Bord sind 20 Experimente abzuarbeiten. Dennoch kommt Langeweile auf. Bücher, darunter eines von Mark Twain, sorgen für Zeitvertreib. In den neuen, leichteren Druckanzügen schwitzt man jedoch elendiglich. Borman und Lovell können sich nicht einmal ordentlich strecken, vom Aufstehen oder Duschen ganz zu schweigen.
Wie verheiratet
Am 16. Dezember sind die Treibstoffreserven des OAMS erschöpft. Nun dürfen die Männer endlich heimkehren. Sie haben knapp 14 Tage auf engstem Raum miteinander verbracht. Jetzt könnten sie genauso gut heiraten, witzeln sie. Ihr Flugrekord beweist: Astronauten würden auch während einer zweiwöchigen Mondmission arbeitsfähig bleiben.
Ende 1965, nach fünf Gemini-Flügen, hat man die UdSSR klar abgehängt. Die Russen besitzen noch immer kein manövrierfähiges Schiff und haben daher auch kein wirkliches Rendezvousmanöver vorgezeigt. Bevor die NASA zum Mond aufbrechen kann, müssen ihr aber unbedingt noch Andockmanöver gelingen und längere Außenbordeinsätze. Dazu plant sie fünf weitere Gemini-Missionen fürs Folgejahr.
Alle zehn Helden des Jahres 1965 werden später ins Apollo-Programm übernommen: Virgil Grissom und Edward White verbrennen allerdings beim Bodentest der Apollo 1. Walter Schirra und James McDivitt umrunden die Erde in Apollo-Schiffen, James Lovell und Frank Borman umkreisen damit sogar erstmals den Mond.
Thomas Stafford wird die Apollo-Landefähre erproben - 14 Kilometer über der Oberfläche des Erdtrabanten. Charles Conrad und John Young hinterlassen sogar Fußabdrücke im staubigen Mondboden. Gordon Cooper hält sich als Ersatzmann bereit; er kommt schlussendlich aber nicht mehr zum Einsatz.
Christian Pinter, geboren 1959, lebt als freier Journalist in Wien und schreibt seit 1991 über astronomische Themen im "extra". Dies ist sein 300. Artikel in der "Wiener Zeitung". Internet: www.himmelszelt.at