Der 9. Dezember wird als einschneidend und verändernd erinnert werden. Es war der Tag, an dem sich Großbritannien aus der Europäischen Union schoss.
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Noch nicht formeller Austritt, aber praktisch völliger Rückzug; Großbritannien stimmte als einziges EU-Mitgliedsland bei der wichtigen, wegweisenden, bedeutungsschweren Abstimmung zur Einleitung einer Fiskalunion nicht mit und stellte sich mit einem "No" ins Abseits.
Nicht, dass die von Angela Merkel und Nicolas Sarkozy, also von "Merkozy", wie die Kritiker seit einiger Zeit höhnen (und kräftig die Germanophobia schüren, weil es ach so bequem ist ein altes Feindbild revitalisiert zu nutzen), versuchten Lösungen Garantien bieten oder "das Gelbe vom Ei" wären. Aber Fakt ist, dass die anderen noch weniger vermögen.
Es geht auch nicht nur um den Euro und die Eurozone. Die Währungsfrage in der Währungskrise hat die Mitgliedsstaaten zu Schritten geführt, die sie ohne diesen Druck wahrscheinlich nie getätigt hätten. Nur Britannien habe Courage und Profil gezeigt, habe auf seine Souveränität gepocht und seine ureigensten Interessen gewahrt. Heißt es von den Eurofeinden und -skeptikern. Die Briten werden dabei von Genossen aus einigen Krisenländern unterstützt, wiewohl die stärker an einem Deutschenhass kleben und "leiden", sich aber, wohl oder (eher) übel, dem Druck beugen. Wäre ihre Lage nicht so verteufelt schlecht, spielten sie die chauvinistische, nationalistische Karte stärker aus. Es fehlen ihnen aber die Karten in diesem Poker. Tschechien schimpft gegen die Deutschen, gegen die EU, profitiert aber von beiden. Die Italiener erinnern sich der Nazis und sehen überall Hitlermerkel, wie es die armen Griechen, die sich mehrheitlich im Opfersein suhlen, vorplärren.
Das höchst Bedeutsame nach der langen Nacht war am Morgen des 9. Dezember, dass trotz aller Ängste und Hasshaltungen, Feindpropaganda und diplomatischer Geschichte es Merkozy gelang, die Erwartungen des großen Britanniens zurückzuweisen. "The Brits are less important than the Euro" bewies, mit einem Veto nach einer Nacht, dass die Briten tatsächlich keine Europäer sind, weil sie nie welche sein wollten.
So peinsam offen hat noch nie ein Premier öffentlich betont, was seine nationalen Interessen sind, was die eigentlichen Beweggründe für die EU-Mitgliedschaft bedeuten: offener Markt, britische Geschäfte. Basta. Nicht weniger, auf keinen Fall mehr. Die britische "Außenpolitik" fühlt sich der "City", dem Finanzplatz, verpflichtet, und nicht Europa. Paddy Ashdown bemerkte im Guardian dazu trocken "We have tipped 38 years of foreign policy down the drain".
Interessant sind die Reaktionen vor allem in England. Die Analysen und Kommentare sind gehaltvoller und schärfer, als zum Beispiel in Deutschland, wo selbst viele Sekptiker wünschten, Merkel würde endlich versagen und Deutschland dürfte weiter die stille Rolle des Zahlmeisters spielen, der nicht aufmuckt, nicht Nein sagt, sondern mitmacht, weniger selber macht. Weniger Macht. Die fünften Kolonnen in Deutschland sind eine starke Bewegung, die ihre Unterstützter in den Deutschenhassern in einigen EU-Ländern haben. Um so bemerkenswerter die gefundene Entscheidung. Auch über Sarkozy ist zu staunen. Er gewann in und durch die Krise an Profil.
Denn sie bedeutet eine Wendung. Trotz aller historischer Hypotheken, der alteingeübten Rolle von Deutschland als nur wirtschaftlich starkem Staat, aber parierendem, kollektivschuldigem Exfeind, der eigentlich immer noch ein Feind ist, hat Deutschland im Verbund mit Frankreich endlich zu einer Souveränität gefunden, die bereit ist, Souveränität zugunsten europäischer Einrichtungen ab- und aufzugeben. Das hat es bisher so nicht gegeben.
Auch wenn die neue Politik nicht erfolgreich sein sollte, bleibt das politische Moment höchst bedeutsam. In England gibt es nicht nur die yellow press und die tabloids, sondern auch eine Qualitätspresse, die nicht nur nach Murdochs Pfeife tanzt. Und es gibt auch Konservative, die Britanniens Geschichte kennen und nicht vergessen haben, die Realisten genug sind, um die drohende Gefahr für Britannien, für Europa zu erkennen.
Vor allem im Guardian, aber auch in der Times oder im Independent kann man in Dutzenden von Artikeln Geschichtsunterricht und politische Analyse lernen: "Conservatives and Europe: divorce was always on the cards", notiert Michael White und führt gerafft die Geschichte der Skepsis und des betonten britischen Nationalismus an. "Camerons no is bad for Britain and for Europe", schreibt Timothy Garton Ash, und will sich trotz Kritik nicht einer gewissen Germanophobie enthalten: "Welcome to German Europe! Napoleon, bonne chance!" Neben den historischen und ökonomischen Überlegungen bedenkt er auch ein weltpolitisches Problem: Die Amerikaner und Chinesen sehen jetzt Europa geschwächt.
Einige meinen, das Gute am Desaster sei, dass jetzt Britanniens Position offen liege. Der Austritt sei eine logische Formsache. Auch wenn es nicht so weit kommen mag, wird das Verhältnis Großbritannien-EU geschwächt und extrem gestört sein. Während andere die Maske noch mühsam vor die Nationalvisage halten, hat England durch Cameron die Hosen runter gelassen: We piss on you.
Die neue Rolle, die Deutschland durch die konsequente Politik Merkels gewonnen hat, muss auch "daheim" konsolidiert werden. Wahrscheinlich hat Deutschland die stärksten Gegner dort. Das wird Europa schaden. Denn nicht ein Germanoropa ist das Ziel, sondern eine Politik, die den Krieg nach dem Zweiten Weltkrieg nicht bequem weiterführt. Mit allen Konsequenzen. Und der erste Schritt dafür ist getan.