Vor hundert Jahren fand auf dem Wiener Pratergelände die "Österreichische Adria-Ausstellung" statt. - Eine Leistungsschau von Gewerbe und Industrie, aber auch eine imaginäre Reise in eine heile Welt.
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"Am Meere, wo sonst die Welt beginnt, hörte hier die Welt auf", schrieb Dr. Albert Moscheni vor hundert Jahren über die Stadt Triest. Ihr Wandel vom bescheidenen Provinzhandelsplatz zum bedeutenden Handelshafen hatte unter Kaiser Karl VI. eingesetzt. Dessen merkantilistische Wirtschaftspolitik habe, so Moscheni, den "Bann gebrochen, welcher das Adriatische Meer von seinem Hinterlande trennte und durch die Errichtung der Orientalischen Kompagnie jenen Weg nach Osten eingeschlagen, den seither Triest nicht mehr verlassen hat. . . Hiemit war auch für die Schaffung einer österreichischen Handelsmarine der Grund gelegt."
Ein k.k. Themenpark
Triest war der große Umschlagplatz für den Nord-Süd-Handel der k.u.k. Monarchie - und deren wichtigstes Tor zu den Weltmeeren. Die Ausführungen des Dottore Moscheni entstammen seinem Aufsatz "Die österreichische Handelsmarine in ihrer Entwicklung und ihrem gegenwärtigen Bestande". Dieser findet sich im Offiziellen Katalog der "Österreichischen Adria-Ausstellung", die vom Österreichischen Flottenverein im Wiener Pratergelände von 3. Mai bis 5. Oktober 1913 veranstaltet wurde. Vom Schema der Weltausstellungen inspiriert, belehrte und unterhielt dieser k.k. Themenpark das Publikum mit technischem Fortschritt, Kultur, Geschichte und einer typisierten "Fremde".
80 Heller kostete der Katalog, ein rund 500 Seiten umfassender Wälzer. Er beinhaltete einen detaillierten Lageplan des Expo-Geländes und lotste wie ein Reiseführer durch die Ausstellungshallen. Als solche fungierten neben der Rotunde eine Reihe von bekannten adriatischen Gebäuden, die man im Originalstil nachgebaut und bestimmten Themenbereichen gewidmet hatte: der Kriegs- und Handelsmarine, dem Maschinen- und Schiffbau, der Fischerei- und Forstwirtschaft, der Jagd und der Grottenkunde, der Hygiene, den Seebädern und Kurorten. Der Katalog stellte den jeweiligen Ressortbeschreibungen eine so volksbildnerische wie propagandistische Einführung voran.
Denn diese Großausstellung - sie sollte die letzte der k.u.k. Monarchie sein - verfolgte nicht nur das Ziel, der Allgemeinheit die Schönheit, den Kulturreichtum und das wirtschaftliche Potenzial der Adria-Länder vorzustellen; in diesem Sommer 1913 ging es um sehr viel mehr: Die Adria-Ausstellung war zugleich eine politische Veranstaltung am Vorabend eines doch erahnten Weltkriegs. Und so präsentierte die k.u.k. Kriegsmarine, damals sechstgrößte Kriegsflotte der Welt, ihre neuesten Spitzentechnologien, während die Ausstellungsmacher mit Pathos den Frieden beschworen:
"Was die Einen geschaffen, zerstörte der Andere und das Jahrhundert österreichischen Dominiums reichte nicht aus, überall dort aufzubauen, wo durch zwei Jahrtausende jeder Epoche blühenden Lebens, Tod und Verwüstung folgte", hieß es im Katalogvorwort von Dr. J. v. Hortenau. Und weiter: Es habe großer Opferwilligkeit vonseiten der Regierung und intensiver Unterstützung aus Gewerbe und Industrie bedurft, um in Zeiten "des Zusammenbruchs der europäischen Türkei, in einer Epoche wirtschaftlicher Depression und der Zurückhaltung des Kapitales, wo jeder Tag den Beginn eines Weltkrieges melden konnte, ein Friedenswerk zu vollenden".
Brüchige Monarchie
Der große Krieg lag in der Luft, in jenem Sommer; ein kleinerer, der 2. Balkankrieg, wurde bereits geführt. Seine Brandung schlug gefährlich gegen die brüchigen Fundamente der Donaumonarchie. Doch Thronfolger Erzherzog Ferdinand, vom Kaiser zum Generalinspektor der gesamten bewaffneten Macht ernannt, war mit dem Chef des Generalstabs, Conrad von Hötzendorf, nicht auf einer Linie. Entschieden lehnte er dessen Forderung nach einem Präventivkrieg gegen Serbien ab - und zog sich "schmollend in sein böhmisches Schloss bei Konopischt" zurück.
So erzählt es der deutsche Autor Florian Illies in seiner originellen, im Vorjahr erschienenen Geschichtscollage "1913". Darin verbinden sich Splitter des Weltgeschehens, Momente künstlerischen Schaffens und Anekdoten aus dem Leben prominenter Schöpfer (und Zerstörer) zu einem großen Ganzen, das die endzeitlichen Ahnungen jenes Jahres auf höchst subtile, mitunter ironische Weise vermittelt.
Oswald Spengler etwa schrieb vom "Untergang des Abendlandes", Trakl von seinem inneren Inferno; Adolf Loos geißelte das Zuckerbäckerornament der Wiener Ringstraße, und Malewitsch erreichte mit seinem schwarzen Quadrat den Nullpunkt der Malerei. Arthur Schnitzer und Robert Musil verstrickten sich in Rosenkriege, Karl Kraus verliebte sich in Sidonie Baronin Nádherný von Borutin. K.u.k.-Agent Oberst Redl erschoss sich im Hotel, Adolf Hitler entzog sich durch Flucht aus Österreich dem Militärdienst. Und der britische Publizist und spätere Friedensnobelpreisträger Norman Angell schrieb einen "Offenen Brief an die deutsche Studentenschaft".
Eine große Illusion
Darin, so Illies, legte Angell dar, "dass das Zeitalter der Globalisierung Weltkriege unmöglich mache, da alle Länder längst wirtschaftlich zu eng miteinander verknüpft seien". Der größten Illusion erlag also ausgerechnet jener Mann, der den wettrüstenden Nationen schon 1910 folgende Warnung ins Stammbuch geschrieben hatte: Zu glauben, die Lage eines Landes lasse sich in dieser "wirtschaftlich zivilisierten" Welt noch mit Kriegen sichern, sei eine "große Illusion". Sein gleichnamiges Buch wurde ein Weltbestseller, wenngleich sich der Weltenlauf bekanntermaßen nicht an die von Angell vertretenen Thesen hielt.
Dem Reich der Illusion entstammt auch jener Consultant der legendären k.k. "Parallelaktion", der im Sommer des Jahres 1913 Urlaub vom Leben zu nehmen gedenkt. Als "Mann ohne Eigenschaften" geht er in die Literaturgeschichte ein. Robert Musil eröffnet dieses sein Hauptwerk mit dem berühmten Satz: "Über dem Atlantik befand sich ein barometrisches Minimum." Was übersetzt so viel heißt wie: An besagtem Augusttage des Jahres 1913 herrschte uneingeschränktes Schönwetter. Kaiserwetter, gewissermaßen.
Im richtigen Sommer 1913 zeigte sich der Wettergott indes wenig gütig. Auf die 155 Betriebstage der Österreichischen AdriaAusstellung entfielen 79 Regentage, wie die "Neue Freie Presse" am 6. Oktober meldete. Die Schau hatte am Vortag ihre Tore geschlossen. Dennoch waren insgesamt 2.080.000 Besucher auf das Pratergelände geströmt, um sich, ja, den Illusionen hinzugeben, die dieser fiktionale Raum zu bieten hatte. Sie tauchten ein in eine virtuelle Realität, in der sich Wissensdurst und Spieltrieb, Fernweh und andere Emotionen genussreich - und gefahrlos - stillen ließen.
Denn das Dargebotene zele-brierte eine allen Menetekeln trotzende Normalität: Hochkultur wurde konsumierbar im sogenannten Rektorenpalast von Ragusa (Dubrovnik), wo die "Wiener Werkstätten", die "Secession" und der "Hagenbund" ihre Werke ausstellten.
Das "Landhaus von Capodistria", ein Prokuratorenpalast mit Spitzbogenfenstern und ghibellinischen Zinnen, beherbergte ein Post- und Telegraphenamt, eine "öffentliche Telephon-Sprechstelle", eine Schreibstube, einen Stand der Versicherungsgesellschaft "Fidelity and Deopsit Co. of Marryland"; eine Lesehalle mit Bibliothek (zur Verfügung gestellt von der Verlagsbuchhandlung A. Hartleben); ein Fremdenverkehrsbüro, eine Bankstelle sowie die "Preßleitung" (Pressestelle) und das Generalsekretariat.
Unter den rekonstruierten Gebäuden fanden sich auch die Ca d’oro von Piran, das Gemeindehaus von Spalato, beide im venezianisch-gotischen Stil; das St. Georgshaus von Lovrano, ein Campanile und ein Klostergang. Gar ein Derwisch-Lager bot man auf. Das Hotel Dalmatia wiederum sollte die "Mustertype einer dalmatinischen Fremdenherberge" darstellen. Für Adria-Flair sorgte ferner das Stadtviertel "Alt Abbazia" mit seinen verwinkelten Gassen, Arkaden und einer Osteria.
Das Gelände war zudem Austragungsort eines geradezu olympischen Sportfestes. Alle Disziplinen waren vertreten, vom Fußball und Landhockey über Fechten, Tennis und Kunstradfahren bis zu Ruder- und Schwimmbewerben.
Von dem künstlichen See mit seinen Barken, Fischerbooten und der Insel mit dem Café Adria führte ein großer Kanal mit drei Brücken bis zur Rotunde. Wer diesen kolossalen (anlässlich der Weltausstellung 1873 eröffneten und durch einen Großbrand 1937 zerstörten) Kuppelbau durch das Südportal betrat, befand sich "gleichsam auf dem Deck eines modernen Kriegsdampfers. Die Kommandobrücke des modernen Schlachtschiffes zog die Besucher in Scharen an, desgleichen die komplett ausgestattete Offiziersmesse, Kommandantenwohnung und Schiffsküche.
Reiz der Militärtechnik
Die k.k. Kriegsmarine präsentierte auch Illustrationen der Küstenverteidigung, ferner Artillerie und Handwaffen, Torpedos sowie Schiffsdampfturbinen. An öffentlichem Interesse für Militärtechnologie herrschte - und herrscht noch heute (man denke an die alljährliche Schau des österreichischen Bundsheeres am Wiener Heldenplatz) - kein Mangel. Der österreichische Schriftsteller Walter Grond (Jahrgang 1957) ließ die Welt der österreichischen Kriegsmarine noch einmal auf ganz besondere Weise aufleben: Sein Roman "Mein Tagtraum Triest" schöpft aus der Grondschen Familiengeschichte. Großvater Liborius Zeeman war Werftdirektor in Triest, baute mit dem berühmten Konstrukteur Siegfried Popper am Großkampfschiff "Viribus Unitis" - und fühlte, "was hinter der kosmopolitischen Kulisse" der Hafenstadt brodelte. Grond: "Ein Schiffsbauingenieur der kaiserlichen Marine mochte zugleich vergangenheitskrank sein, aber durchaus utopisch denken."
Die naturwissenschaftliche Abteilung der Rotunde erfüllte einen besonderen Bildungsauftrag: Sie präsentierte die Forschungstätigkeit des militär-geographischen Instituts und der geologischen Reichsanstalt, zeigte Seewasseraquarien und Mineralien, Fauna und Flora der Adrialänder, und warb für Naturschutz.
Die Handelsmarine wiederum präsentierte u.a. Dampfschifffahrtsunternehmen und eine Abteilung für Seefischerei. Noch einmal sei Dottore Moscheni zitiert: Der Erwerb mächtiger Seeküsten habe der Monarchie "auf einmal kostbares Reeder- und Seeleutematerial" gebracht. Verfügte die österreichische Handelsmarine 1760 erst über 127 Schiffe, so waren es im Jahr 1814 bereits 1600 und 1867 gar 2936 Schiffe. Moscheni würdigt auch das österreichische Erfinderschicksal des in Triest ansässigen Josef Ressel.
Dieser hatte 1826 die Dampfschraube erfunden, durch einen unglückseligen Zufall bei der Probefahrt aber ein polizeiliches Verbot weiterer Versuche hinnehmen müssen. Erst verspätet vollzog sich daher der Übergang zur k.k.-Dampfschifffahrt.
Der Hafen Triest präsentierte sich in einer eigenen Abteilung. Und der Expo-Katalog zeigt eindringlich, dass diese Schau dem Fortschritt in allen Lebensbereichen huldigte: Da werden nicht nur Stadtansichten, der Straßentunnel "S. Vito" und die neue Fischhalle vorgestellt, sondern auch die Grundrisse eines Siechenhauses und der Irrenanstalt "Andrea di Sergio Galatti", das Spital für Infektionskrankheiten oder ein Verbrennungsofen für Tierkadaver.
Virtuelle Reisen
Triestiner Kaufleute und Financiers hatten auch den Österreichischen Lloyd gegründet, der die Adriaküste, später noch "Konstantinopel, Smyrna und Alexand-rien" anfuhr. 1912 war die Flotte auf 66 Dampfer angewachsen. Ihr Ozeanriese "Wien" lag im Ausstellungssee vor Anker - in verkleinerter Nachbildung, zum prächtigen Restaurant ausgestaltet. Die Innenausrichtung des Speisesaals war "im vornehmsten Adam-Stil gehalten" (einem vom schottischen Brüderpaar Robert und James Adam geprägten klassizistischen Architekturstil). Das Interieur war für den nächsten Dampfer des Österreichischen Lloyd bestimmt und für die Dauer der Schau verliehen.
Für das lust- und genussvolle Erleben der virtuellen Adria-Welt sorgten schließlich zahlreiche Unterhaltungseinrichtungen. Das seit 1766 für die Allgemeinheit geöffnete Pratergelände war bereits ein traditioneller "Sammelpunkt für imaginäre Reisen", wie die Historikerin Ursula Storch in ihrem Aufsatz "Gruß vom Nordpol im k.-k. Prater" ausführt. ("Wien II. Leopoldstadt", 1999). Als Katapult in die Fremde dienten anfangs Panoramen und Dioramen, dann die ersten Kinos.
Ein solches - das "Marinekino" - stand dem Publikum der Adria-Ausstellung im Expo-Palast der Reederei Austro-Americana (unübersehbar durch den rot-weißen Leuchtturm) offen. Dort spielte man etwa einen "langen Film, der eine Fahrt des großen Prachtdampfers ,Kaiser Franz Josef I.’ illustrierte . . ., und einen Riesenfilm, der das Leben Richard Wagners darstellt", schrieb die "Neue Freie Presse" vom 5. Mai 1913. Auch der Streifen "König Mene- laos im Kino" von Regisseur Otto Löwenstein war dort zu sehen.
Südbahngesellschaft
Die Südbahngesellschaft - Eigentümerin der Bahnverbindung zwischen Wien und der Adria sowie nobler Hotels entlang der Strecke - hatte eine ganze Semmering-Szenerie aufgebaut: Vor einem Felsportal mit plastischem Tunneleingang befand sich eine Stationsanlage samt automatischem Bahnschranken. Hinter dem Tunneleingang tat sich eine Felswand auf und gewährte "einen entzückenden Ausblick auf den Semmering" mit seinen Hotels, Kurhäusern und Villen.
Den Fernblick simulierte ein raffiniert-realistisches Diorama, gemalt vom Brüderpaar Kautzky und Rottanara (schon 1895 hatten deren Panoramen für den Vergnügungspark "Venedig in Wien" begeistert). Die Expedition fand ihre Fortsetzung in einer mit echten Stalagmiten und Olmen bestückten Grotte. Durch einen Höhlenspalt gelangte man hinaus auf eine Pergola, die einen Ausblick auf die Adria bot, auf das Schloss Miramar, die Südbahntrasse und auf das Häuermeer von Triest.
Doch die Veranstalter warteten noch mit ganz anderen Entrückungsmaschinerien auf, etwa mit den Attraktionen "Unterseeboote" oder "Auf hoher See". Letztere vermittelte die perfekte Seereise-Illusion: "Das Publikum befindet sich sofort schon beim Eintritte in das Objekt auf einem der bequemen Dampfer, welche unser schönes Adriatisches Meer befahren", heißt es auf einem Werbeplakat. Die Besucher müssten sich nun die feste Vorstellung machen, wirklich an Bord eines Schiffes zu sein und "es sei alles reinste Wirklichkeit, was vorgeht, und nicht Täuschung . . . Durch das Heraufholen der Anker, Emporhissen der Boote, Kommandorufe des Schiffspersonals . . . Nebelhornpfeifen usw. wird die Täuschung vollkommen. An den Fenstern ziehen reizende Seelandschaften und Marinebilder vorbei, lustige Delphine hüpfen aus der Flut . . . Es ist eine hochinteressante, Seekrankheit vollkommen ausschließende Fahrt, ein schöner Zeitvertreib für jedermann." Der explizite Hinweis auf die räumliche wie sinnliche Täuschung dürfte das Vergnügen all jener Besucher kaum geschmälert haben, für die eine Schiffsreise im wirklichen Leben ebenfalls nichts anderes war als "reine Illusion".
Wenn jemand eine Reise tut, so kann er was erzählen. Der imaginär Reisende der Adria-Ausstellung konnte einen Erstbericht sogar per Fotopostkarte an die "Daheimgebliebenen" senden, ehe er draußen, in der realen Welt, den Rest erzählte.
Ingeborg Waldinger, geboren 1956, Romanistin/Germanistin, ist Redakteurin im "extra" der "Wiener Zeitung" und literarische Übersetzerin aus dem Französischen.