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Theoretiker der Subversion

Von Stephan Grigat

Reflexionen

Erinnerung an den vor zehn Jahren verstorbenen Politikwissenschafter Johannes Agnoli, einen so ironiefähigen wie streitbaren Denker und wichtigen Stichwortgeber der 68er Bewegung.


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Wladimir Iljitsch Lenin empfahl den Revolutionären, sich in für sie schlechten Zeiten in "Geduld und Theorie" zu üben. Der Gesellschaftskritiker Johannes Agnoli hingegen, der zeitlebens keinerlei Sympathien für den autoritären Staatssozialismus osteuropäischer Prägung hegte, setzte auf Geduld und Ironie. Auf den Einwand, es sich damit im falschen Ganzen hedonistisch bequem zu machen, entgegnete der von 1972 bis 1990 als Professor an der Freien Universität Berlin Politikwissenschaft Lehrende: "Der echte Revolutionär muss sich immer einen Rest von Ironie und Selbstironie bewahren. Kommunismus ist wichtig, aber Osso bucco ist auch nicht ohne."

Mit dieser ironischen Distanz versuchte Agnoli sich die verdummenden Zumutungen der Gesellschaft, so gut das eben geht, bis zu seinem Tode vom Leib zu halten. Vor zehn Jahren, am 4. Mai 2003, ist Johannes Agnoli im Alter von 78 Jahren im italienischen Lucca verstorben, wohin er sich nach seiner Emeritierung zurückgezogen hatte. 1925 in Norditalien geboren, engagierte sich Agnoli früh in der Gioventù Italiana del Littorio, der faschistischen Jugendorganisation. Gleich nach dem Abitur meldete sich Agnoli bei der Waffen-SS, die für die Re-krutierung von ausländischen Freiwilligen zuständig war, und kam zu den Gebirgsjägern der Wehrmacht. Er kämpfte unter anderem gegen Partisanen in Jugoslawien und geriet als 20-Jähriger in britische Kriegsgefangenschaft in Ägypten. Über seine Mitgliedschaft in der faschistischen Jugend hat Agnoli später stets sehr offen und auch öffentlich gesprochen. Auf seine Zeit bei der Wehrmacht hingegen musste man ihn schon direkt ansprechen, um etwas darüber zu erfahren, was ihm völlig zurecht scharfe Vorwürfe eingebracht hat.

Intensive Marx-Lektüre

Später, als linker Antifaschist, setzte sich Agnoli immer wieder mit den unterschiedlichen Strömungen in Mussolinis Bewegung auseinander. Die Ergebnisse können in den Aufsätzen im Band 4 seiner (mittlerweile komplett im Internet verfügbaren) "Gesammelten Schriften" nachgelesen werden, die unter dem Titel "Faschismus ohne Revision" erschienen sind.

1948 wurde Agnoli nach Deutschland entlassen, arbeitete als Hilfsarbeiter in einer Holzfabrik und studierte in Tübingen, wo sich ihm durch intensive Marx-Lektüre eine neue Welt eröffnete. Nach seiner Promotion unterrichtete er in Tübingen und Stuttgart, trat eine Assistentenstelle in Köln an, die er auf Grund seines Engagements für die Anerkennung der DDR schnell wieder verlor und wurde 1962 Assistent an der FU Berlin, wo er sich Anfang der siebziger Jahre habilitierte.

Über sein Wissenschaftsverständnis schrieb Agnoli ausgehend von Kant, dem jungen Hegel und Marx: "Die Abschaffung des objektiven, durchaus interessierten, also besonderen Interessen zweckdienlichen Zwangscharakters der Gesellschaft: zu diesem Ende soll Politische Wissenschaft betrieben werden." In einer Prüfungssituation soll ein Professorenkollege den stets als Störenfried wahrgenommenen Agnoli einmal angefahren haben: "Wenn Sie an die Macht kommen, stellen Sie mich sicher an die Wand!" Worauf der Angesprochene ebenso verschmitzt wie trocken erwiderte: "Wo denken Sie hin, Herr Professor. Wenn wir an die Macht kommen, sind Sie auf unserer Seite. Sie sind doch immer auf der Seite der Macht."

Für jemanden, der 30 Jahre als beamteter Professor tätig war, hat Agnoli ein vergleichsweise schmales Werk hinterlassen. Er konzentrierte sich auf Aufsätze, die sehr oft in nicht-akademischen Publikationen erschienen, anstatt dicke Wälzer zu schreiben, die ungelesen in den Bibliotheken verstauben; und er las lieber als sich in ein professorales Textverarbeitungsprogramm zu verwandeln, was ihn einmal zu der Äußerung animierte: "Lesen kostet Zeit, während Habermas schreibt."

Einen Eindruck von Agnolis Lehrtätigkeit vermittelt die Lektüre der "Subversiven Theorie", eines Mitschnitts seiner vorletzten Vorlesung an der Freien Universität Berlin, die als dritter Band seiner "Gesammelten Schriften" erschienen ist. Liest man diese Ausführungen, wird einem schnell klar, dass in den Hörsälen der Lehranstalten nicht zwangsläufig jene akademische Langeweile herrschen muss, die heutzutage fast alle Studierenden erleiden müssen. Agnoli stand im schroffen Gegensatz zu den akademischen Theorieverwaltern und universitären Sachbearbeitern, die jedem Gedanken den kritischen und polemischen Impetus ausgetrieben haben. Er blieb stets ein zu Empathie fähiger Denker, dem es um eingreifende Kritik ging. Nicht theoretische Stimmigkeit um ihrer selbst willen war Agnoli ein Anliegen, sondern es ging ihm um in Begriffe zu fassende reflektierte Erfahrung zum Zwecke der Intervention in die gesellschaftliche Wirklichkeit.

Agnoli versucht in der "Subversiven Theorie" von den antiken und christlichen Mythen über das Mittelalter bis zur Neuzeit die Geschichte der theoretisch-intellektuellen und der praktischen Subversion nachzuzeichnen. Er liefert Beispiele für einen möglichen anderen Umgang mit politischer Philosophie- und Ideengeschichte und zeigt, wie widerständige, subversive oder auch einfach nur unbequeme Denker und vor allem Denkerinnen in den meisten Wissenschaften missachtet, fehlinterpretiert oder auch pathologisiert wurden und werden.

Staats- und Politikkritik

Den Begriff der Subversion definiert er als Form menschlicher Emanzipation in finsteren Zeiten. Die Subversion ist nicht die Befreiung selbst, sondern ihre Vorbereitung. Agnoli begreift sie als "Negation sans phrase, Negation als destructio, als eigenwillige Vernunft". Die Subversion ist eine sowohl theoretische als auch praktische Tätigkeit, die die Ordnung angreift, ohne jedoch wie Protagonisten einer konformistischen Revolte eine "noch ordentlichere Ordnung" einzufordern.

In Agnolis Streifzug durch die Philosophiegeschichte lassen sich immer wieder die Grundzüge seiner Staats- und Politikkritik erkennen, wie er sie in seinen bekannteren Texten wie der "Transformation der Demokratie" entwickelt hat, die als "Bibel der Außerparlamentarischen Opposition" galt, nach Angaben von damals Involvierten auch in Wien zur Pflichtlektüre der 68er gehörte und weit über linksakademische Kreise hinaus rezipiert wurde.

Gegen die Institutionalisierung der Subversion setzt Agnoli seine Parlamentarismuskritik, in der er auf eine Involutionstendenz der modernen Demokratien verwies. Er legt dar, dass Macht nicht dann wirksam kontrolliert und schon gar nicht sabotiert werden kann, wenn sich die Subversion auf die Institutionen der Macht einlässt, sondern nur dann, "wenn die Vernunft auf der Straße in Permanenz tagt". Dementsprechend war Agnoli ein scharfer Kritiker jenes "Marsches durch die Institutionen", mit dem sich viele der von ihm zunächst inspirierten 68er ihre Anpassung ans Bestehende schön geredet haben. Er wusste, dass die Institutionen in aller Regel stärker sind als die Menschen, die sich in sie hineinbegeben.

Agnoli hat nachdrücklich darauf hingewiesen, dass wir es in den europäischen Nachkriegsstaaten keineswegs mit Gesellschaften zu tun haben, die aus dem Nichts entstanden sind, sondern mit postfaschistischen Gesellschaften, die gewisse Komponenten des Faschismus in modifizierter Form in sich aufgenommen haben. Darüber referierte er zwei Jahre vor seinem Tod auf einem Kongress in Wien, bei dem 2001 u.a. über die Bedeutung der blau-schwarzen Koalition diskutiert wurde.

Die Auseinandersetzungen über Antisemitismus und falsche Kapitalismuskritik, wie sie spätestens seit Anfang der 1990er Jahre in der deutschsprachigen Linken geführt werden, konnten aus Agnolis Texten nur wenige Impulse erhalten. Das liegt in erster Linie daran, dass jene Gemütslage des quengelnden Bürgers, der sich permanent betrogen und übervorteilt fühlt und einen diffusen Hass gegen "die da oben" hegt, bei Agnoli nicht Gegenstand der Kritik ist, sondern ganz im Gegenteil immer wieder als Beleg für die grundsätzliche Widerständigkeit der abhängigen Massen herhalten muss.

Die antisemitischen Implikationen eines ressentimenthaften Antikapitalismus bekam Agnoli nur selten in den Blick. Selbst noch der rigide Antiintellektualismus deutscher Werktätiger, der selten ohne eine latent antisemitische Einfärbung auskommt, schien ihm bisweilen eine Bestätigung für die ursprüngliche Aversion der Arbeitenden gegen Herrschaft jeglicher Art zu sein.

Kritik an Djihadisten

Doch seine Kritik eines autoritären Staates rechtsstaatlicher Prägung, seine Überlegungen zum Staat als "Gesellschaftsplaner" oder auch seine Charakterisierung der postnazistischen Parteienlandschaft der BRD als "plurale Fassung einer Einheitspartei", haben nichts an Aktualität verloren.

Bei aller Kritik an einem funktionalistischen Antisemitismusbegriff in seinen faschismustheoretischen Schriften und an seiner Ablehnung der Kritischen Theorie von Autoren wie Theodor W. Adorno und Max Horkheimer (eine Ablehnung übrigen, über die er sich in seinen letzten Lebensjahren sehr selbstkritisch geäußert hat), bleibt seine stets vom basso continuo der Ironie begleitete Kritik allein schon angesichts des staatsidealistischen Konformismus und der verbiesterten Humorlosigkeit großer Teile der heutigen Linken aktuell.

Dass Johannes Agnoli sich auch am Ende seines Lebens nicht vom Mainstream der Linken vereinnahmen ließ, kann man in dem Interview-Buch "Das negative Potential" von 2002 nachlesen, in dem er - kurz nachdem sich ein nicht geringer Teil der globalen Linken im Abfeiern der zweiten Intifada und des Massenmords von 9/11 von jeder kritischen Aufklärung verabschiedet hatte - mit einer völligen Selbstverständlichkeit von den islamischen Djihadisten als einer ähnlichen Bedrohung für die Emanzipation spricht, wie es historisch die Faschisten gewesen sind:

"Auch sie wollten und wollen niemals Freiheit, im Gegenteil. Ihr Wunschtraum ist es, die ganze Welt zu islamisieren. Dass sie das Befreiung nennen, liegt an der ideologischen Verwendung der Begriffe."

Stephan Grigat ist Lehrbeauftragter für Politikwissenschaft an der Universität Wien und Herausgeber von "Postnazismus revisited. Das Nachleben des Nationalsozialismus im 21. Jahrhundert" (Verlag ça ira).