Eine Erinnerung zum 50. Todestag des Staatsrechtslehrers und Mitautors der österreichischen Verfassung am 19. April.
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Hans Kelsen kam am 11. Oktober 1881 in der böhmischen Hauptstadt Prag auf die Welt und wuchs in Wien auf, wo sein Vater Adolf eine Lampenfabrik betrieb. Die in Wien-Wieden erzeugten Gaslüster schmückten Wiener Synagogen, darunter den Tempel in der Josefstädter Neudeggergasse. Als Adolf Kelsen im Jahr 1907 starb, versuchte sich Hans Kelsens Bruder Ernst als Nachfolger im Betrieb, aber auch er musste sich aus der sterbenden Branche zurückziehen. Hans Kelsen wuchs mit drei Geschwistern in der Marokkanergasse in Wien-Landstraße auf. Drei Jahre lang war er Schüler der Evangelischen Volksschule, er maturierte am Akademischen Gymnasium, wo eine Gedenktafel an ihn erinnert.
Kelsens Mutter Auguste stammte aus Böhmen, sein Vater Adolf aber, so wie der "Radetzkymarsch"-Autor Joseph Roth, aus der Bezirkshauptstadt Brody in Galizien (heute Ukraine).
Als Gymnasiast war Kelsen, der einige Gedichte für die "Hausfrauen-Zeitung" schrieb und Knut Hamsuns Romane las, mit Otto Weininger befreundet, der ihm auf einer Foto-Widmung das "gemeinsame Erholungsmaximum" wünschte.
Es ist bekannt, dass Weininger, der 1902 zum Protestantismus übertrat und 1903 Selbstmord beging, ein gespaltenes Verhältnis zu Frauen und zum Judentum hatte, das in seinem oft zitierten und noch öfter missverstandenen Werk "Geschlecht und Charakter" zum Ausdruck kommt. Jacques LeRider und Norbert Leser haben jedoch gezeigt, dass Weiningers Werk differenziert zu sehen ist und der Einfluss auf Kelsen kein zerstörerischer, sondern ein durchaus anregender war.
Zweimal konvertiert
Was das Verhältnis Kelsens zum Glauben seiner Vorfahren betrifft, ist eine schrittweise Distanzierung erkennbar. Schon seine Sozialisierung in der evangelischen Volksschule brachte ihn dem Christentum näher, und er trat 1905 in die römisch-katholische Kirche ein. Doch im Mai 1912 entschloss sich der damals bereits habilitierte Staatsrechtslehrer zu einem abermaligen Konfessionswechsel und trat zum Protestantismus über und wurde Taufpate seiner Verlobten, Grete Bondi.
Am 25. Mai 1912 fand die Trauung in Wien-Alsergrund in der Widerhofergasse statt, der Wohnung seiner Schwiegereltern. Der aus Dresden stammende evangelische Pfarrer Paul von Zimmermann (1843-1927), der auch Religionsphilosophie in Wien lehrte, leitete die Zeremonie. In den Trauungsmatrikeln ist Kelsen als "Dr. Johann Kelsen, Beamter des k.k. Handelsmuseums" eingetragen.
Durch die Heirat mit Grete war Kelsen über die Schwester seiner Gattin, Karoline, mit der Familie Drucker verschwägert. Diese Verbindung ist in mehrfacher Hinsicht von Interesse. Zum einen verdankte Kelsen - der zunächst an der Universität Wien nicht Fuß fassen konnte, weil dort keine Assistentenstelle frei war - seine Adjunktenstelle an der Export-Akademie dem Hofrat Drucker, denn das k.k. Handelsministerium war Träger dieser im Palais Festetics in der Berggasse angesiedelten Bildungseinrichtung.
Diese zog im Jahr 1917 in das neue, von Architekt Alfred Keller geplante Gebäude nach Döbling, erst in der Republik erfolgte durch eine Ermächtigung an die Staatsregierung die Aufwertung zu einer "Hochschule für Welthandel". Da diese 1975 zur Wirtschaftsuniversität aufstieg, kann man mit Recht schreiben, dass Kelsens akademische Laufbahn an der Vorgängerin der "WU" begonnen hat.
Hans Kelsen ist uns heute vor allem als Architekt oder Schöpfer der Bundesverfassung 1920 in Erinnerung. Da es mindestens fünf Entwürfe gibt, ist nicht immer klar, aus wessen Feder diese stammten. In mehreren Quellenstudien zum Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) 1920 wurde nachgewiesen, wie mühevoll die Anfertigung der Entwürfe nach den zwei Länderkonferenzen im Frühjahr 1920 vor sich ging, da die Bundesverfassung als Kompromiss der drei maßgebenden politischen Kräfte in der Nationalversammlung anzusehen ist.
Daher ist es unrichtig, von einer "Kelsen-Verfassung" zu sprechen, denn ein grundlegendes konstitutionelles Werk hat erfahrungsgemäß immer mehrere Urheber und bedarf auch einer legistischen Feinabstimmung.
In einigen wichtigen Passagen, vor allem zur Verfassungsgerichtsbarkeit, ist Kelsens Handschrift unverkennbar. Andere Bereiche, wie das bis heute geltende Wahlrecht zum Nationalrat, entsprachen nicht seinen Wunschvorstellungen, aber er musste sich hier Karl Renners Visionen fügen. Die Feinabstimmung des B-VG erfolgte in einem eigens dafür errichteten Unterausschuss in der konstituierenden Nationalversammlung, der unter der Leitung von Otto Bauer stand und in dem Ignaz Seipel als Berichterstatter fungierte.
Aber selbst in dieser heiklen Phase nach dem Juni 1920, als bereits die große Koalition zerbrochen war und der oberösterreichische Historiker Michael Mayr die Staatskanzlei führte, stand Kelsen auf Abruf bereit, um als Konsulent für die Abgeordneten Detailfragen zu klären.
Richter und Professor
Seine ersten rechtswissenschaftlichen Arbeiten hatte Kelsen im Jahr 1906 im Bereich des Wahlrechts verfasst und mit einem Kommentar zur Reichsrats-Wahlordnung 1907 gekrönt. Spätestens mit dieser Veröffentlichung war klar, dass der junge Jurist Großes vorhatte. Der damals in Wien lehrende Verfassungsprofessor Edmund Bernatzik, der zuvor in Basel und in Graz Professuren innegehabt hatte, ermöglichte ihm die Publikation einer ersten, verfassungshistorischen Studie über Dante Alighieri, stand Kelsens Karrierechancen aber zurückhaltend gegenüber. Bernatzik war ein korporierter Kunstfreund und Förderer der Sezession, der allen Studenten, so auch Karl Renner, durch seine sarkastischen Bemerkungen zur Verfassung der Monarchie in Erinnerung blieb.
Kelsen, der sich mit einer großen Arbeit über "Die Hauptpro-bleme der Staatsrechtslehre" 1912 habilitierte, musste bis zum Weltkrieg warten, ehe sich die Chance auf eine Professur für Militärrecht(!) ergab. Als Reserveoffizier und zeiteiliger Militärrichter (Auditor) schaffte es Kelsen, der als Hauptmann abrüstete, bis in das Kabinett des k.u.k. Kriegsministers Rudolf Stöger-Steiner. Erst dort eröffneten sich jene politischen Kanäle, die es ihm ermöglichten, wenigstens zu einer außerordentlichen Professur zu gelangen. Von seinem Werk und Können her hätte er diesen Schritt längst verdient.
In der Ersten Republik war er dann der Mann der Stunde, nach Bernatziks Tod im März 1919 wurde er dessen Nachfolger als Professor und übernahm auch dessen Platz im (damals "deutschösterreichischen") Verfassungsgerichtshof. Der VfGH befand sich damals im Parlamentsgebäude, sodass Kelsen, der seit 1912 eine Josefstädter Wohnung (Wickenburggasse 23) bewohnte, alle wichtigen Wege zu Fuß zurücklegen konnte.
Dennoch fand er seine größte Entfaltung im Privatseminar, das er zu Hause abhielt. Dort entstand unter tatkräftiger Mithilfe von Grete Kelsen, die auch viele Verfassungsentwürfe für ihren Gatten redigiert hatte, in den 1920er Jahren die Wiener Schule des Rechtspositivismus, aus der die 1934 erstmals und 1960 neu aufgelegte "Reine Rechtslehre" entstand, eine Theorie, die wertneutral und streng positivistisch sämtliche Rechtssysteme zu erklären und von anderen Normenordnungen (wie Ethik oder Religion) abzugrenzen versucht. Dieses Werk ist das bekannteste Kelsens, es wurde in unzählige Sprachen übersetzt und entfaltete besonders im mittel- und südamerikanischen Raum Einfluss, wogegen Kelsen in seinem nach 1940 gewählten Exil in den USA mit seinen rechtstheoretischen Ansichten nicht durchdrang.
Kelsen wurde nach einem erfolgreichen und produktiven Jahrzehnt in Österreich nicht etwa geehrt, sondern durch ein eigenes Verfassungsgesetz seines Richterstuhls im VfGH beraubt. Man kann es nicht anders ausdrücken, denn diese Methode, die übrigens erst vor kurzem wieder in Polen zur Anwendung kam, stellt einen flagranten Eingriff des Gesetzgebers in die Justiz dar. Eine Wiederbewerbung auf einem "Ticket" der Sozialdemokraten lehnte Kelsen ab und verlor damit im Februar 1930 sein Amt.
Robert Musil schrieb damals in sein Tagebuch, dass man angesichts der gegen Kelsen und auch den Grazer Kollegen Max Layer gerichteten Aktion einen "Verein gegen die Ausbreitung der Dummheit" gründen sollte.
Mehrfach vertrieben
Als Kelsen an die Universität Köln berufen wurde, schien sich zunächst alles zum Guten zu wenden, er erhielt eine gut dotierte Professorenstelle, die auch Völkerrecht umfasste, und wohnte erstmals in einer Villa. Aber schon 1933 endete dieses Idyll mit der Vertreibung durch das NS-Regime, das per Gesetz alle jüdischstämmigen Berufsbeamten ihres Amtes enthob. Damals protestierten fast alle Kollegen Kelsens in Berlin, lediglich der mit dem "Führerstaat" sympathisierende Carl Schmitt wollte den Aufruf nicht unterschreiben.
Kelsen zog 1935 nach Genf, wo er am Institut de hautes études forschte und parallel eine Professur in Prag ausübte, die nach dem Wintersemester 1937/38 wiederum durch die Nazis beendet wurde. Als die Wehrmacht Paris überrannte, beschloss Kelsen, in die USA zu flüchten. Nach einem langen Weg, der über Harvard führte, fand er in Berkeley in Kalifornien eine dauernde Bleibe mit einer politikwissenschaftlichen Professur, die er bis zur Emeritierung ausübte. Zudem verfasste er völkerrechtliche Gutachten, mit denen sein internationales Ansehen stieg, das ihm zahlreiche Ehrungen einbrachte. Wenn Gäste nach San Francisco kamen, bewirtete sie der Tortenliebhaber Kelsen mit Wiener Spezialitäten, die er vor Ort erwarb.
Am 19. April 1973 starb Hans Kelsen im Orinda Convalescent Home, einem Hospiz in der Nähe von Berkeley. Seine Tochter Maria Feder hatte den bereits 92-Jährigen einige Wochen zuvor wegen zunehmender Herzschwäche dorthin gebracht. Nach seinem Tod wurde der Leichnam eingeäschert, die sterblichen Reste des Verfassungsschöpfers wurden im Pazifik verstreut. Weder von Hans Kelsen noch von seiner im Jänner 1973 verstorbenen Ehefrau Grete gibt es ein Grabmal.
Gerhard Strejcek, geboren 1963, ist Ao. Professor am Institut für Staats- und Verwaltungsrecht an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien und Autor kulturhistorischer Beiträge.
Literatur:
Thomas Olechowski: "Hans Kelsen. Biographie eines Rechtswissenschaftlers". Verlag Mohr Siebeck, Tübingen 2020.