Daniel Ritter therapiert Flüchtlinge. Im Gespräch mit der "Wiener Zeitung" erklärt er, warum Integration durch Therapie sinnvoller ist als das Predigen von Werten.
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"Wiener Zeitung": Ist es ein Problem, wenn Sie als Mann Frauen therapieren?
Man muss sich dessen bei bestimmten Themen immer bewusst sein, bei anderen Kulturen kann das zudem verstärkt eine größere Rolle spielen. Mit ein wenig Gespür bekommt man meist heraus, ob deshalb etwas in der therapeutischen Beziehung blockiert ist. Wenn es Hemmnisse gibt, muss ich versuchen zu spüren, ob dasmit mir als Mann zu tun hat oder ob es eher eine rein kulturelle Differenz ist, die es mit einer weiblichen Therapeutin genauso gäbe.
In muslimischen Kreisen ist die Trennung zwischen Männern und Frauen strikter als bei uns, zudem haben viele Frauen Gewalt erlebt. Deswegen frage ich mich, ob es ein Problem ist, sich einem Mann zu öffnen.
Sollte so eine spezielle Situation vorliegen, wird das vorsichtig, aber direkt angesprochen. Die meisten Klientinnen sagen, dass das kein Problem sei. Ich kann Fälle aber auch an Kolleginnen weitergeben. Im Prinzip wird es aber als therapeutischer Fortschritt gesehen, wenn eine Klientin sich einem Mann anvertrauen kann und damit beweist, zwischen Männern als Tätern und wohlmeinenden Männern differenzieren zu können.
Ist es kein Problem, wenn weibliche Dolmetscherinnen auf männliche Klienten stoßen? Da wird wohl kaum einer über seine Potenzprobleme sprechen.
Da haben Sie einen Punkt getroffen, darüber machen wir uns immer wieder Gedanken. Wenn man dann nachfragt, sagen die meisten freilich aus Höflichkeit: Nein, es stört mich nicht. Ich bespreche das mit der Dolmetscherin, weil sie das über die Sprache möglicherweise viel feiner mitbekommt. Oft hat die Dolmetscherin etwas durchaus Belebendes für männliche Klienten. Das ist dann ein sehr lebendiger Prozess und man muss die Vor- und die Nachteile diesbezüglich abwiegen.
Wie wirkt sich die Therapie auf die Integration aus?
Auf die innere Integration wirkt sich die Therapie auf jeden Fall aus, nicht nur weil sie stabilisiert. Jede innere Integration, also die Verarbeitung und Neuordnung innerhalb der Psyche, trägt auch zu einer besseren Integration in die Gesellschaft bei. In der Therapie wird ein Raum für die Klientinnen geschaffen, den sie sonst nirgends haben. Das bedeutet auch: See haben hier einen Raum, in dem sie sich innerseelisch einrichten können. Viele wollen deshalbgar nicht mit der Therapie aufhören, denn wo können sie sonst alles rauslassen? In der Familie darf man mitunter nicht zeigen, was los ist. Da muss man füreinander stark sein.
Was sind die Probleme der Menschen im Alltag in einer neuen Umgebung?
Da geht es zuallererst um existenzielle Probleme. Die Menschen leben häufig auf engstem Raum oder in Heimen und das mit wenig Geld. Das Hauptproblem liegt also nicht in der Kultur, sondern eher an der Armut. Die bisherige soziale Identität ist diesen Menschen verloren gegangen. Das muss aber nicht immer nur negativ sein: Tschetschenische Frauen beispielsweise erleben manchmal eine Befreiung, sie sind froh, dass sie aus einer Welt, in der sie von Männern dominiert wurden, loskommen. Manchmal lassen sie sich scheiden. Dann gibt es aber auf der anderen Seite auch die Männer, die gerade dadurch frustriert sind. Was man in manchen Punkten auch nachvollziehen kann, etwa, wenn sie ihren Einfluss auf die Kinder verlieren.
Müssen Sie das den Männern dann erklären?
Hin und wieder schon. Ein Klient musste um das Besuchsrecht für seine Kinder kämpfen – er verstand nicht, wie das Sorgerecht prinzipiell bei der Frau liegen kann. Ich habe dannauch verstanden, dass er sich ungerecht behandelt fühlte, weil er unter dem Generalverdacht stand, ein brutaler Prügler zu sein. Es liegt aber auch hier nichtnur an der anderen Kultur. Die Kultur ist immer das, was man sich gerade, in diesem Moment, untereinander aushandelt.
Ja, aber wir beide etwa sind in einer ähnlichen Kultur aufgewachsen, ich kann annehmen, dass Ihnen gewisse Dinge klar sind, wir teilen eine Sprache und kennen die Regeln. Im arabischen Raum ist es etwa nicht unbedingt verwerflich, Kinder körperlich zu sanktionieren. Bei uns ist das verboten.
Ja, das gibt es, solche groben Unterscheide müssen wir immer wieder aufklären. Therapie bedeutet aber nicht, die Klienten eines Besseren zu belehren, vielmehr geht es darum, Regeln und Muster in Frage zu stellen. Wir sind es als Europäer im Sinne der Aufklärung gewohnt, Regeln und vorgegebene Dogmen kritisch hinterfragen zu dürfen. Das ist der große Unterschied zu stark von Regeln geleiteten Kulturen, in denen nicht viel hinterfragt werden darf. Teil der therapeutischen Arbeit ist es, Klienten zum Hinterfragen zu bringen. Das predigen wir aber nicht, sondern wir leben es in einem humanistischen Sinn – gerade mit der Therapie. Auch hier gilt: Therapie ist immer auch Integration.
Integration ist momentan das Schlagwort. Sehen Sie einen Unterschied in den sogenannten Werten der neuen und der alten Österreicher?
Das ist sehr schwer zu sagen. Ich erlebe ja auch Werteunterschiede zwischen mir undösterreichischen Klienten. Das Thema ist nur wegen der großen Flüchtlingszahlen nicht mehr so einfach auf die individuelle Schulter zu nehmen wie früher. Es war vor fünf Jahren noch leicht, bedenkenlos von einer offenen Gesellschaft zu sprechen. Heute kommen zu uns Bevölkerungsgruppen, die in einer unsicheren Situation ihre Identität stark nach außen hin schützen und auch aus Gründen der persönlichen Stabilität ihre eigenen Werte verteidigen. Bei Menschen, die keine Zukunft sehen, werden abstrakte, idealisierte Werte mitunter immer radikaler. Mit der Kultur an sich hat das wenig zu tun. Das ist psychologisch auf jeden Fall zu verstehen, aber es ist auch für mich persönlich schwer zu sagen, wir sollten gegenüber allem kritiklos offen sein. Wenn die Religion eindimensional sehr stark betont wird, dann wirkt das auch für mich zuweilen befremdend. Ich werte freilich nicht nach Glaubensrichtungen, auch nicht in der Therapie. Vielmehr muss das individuelle Schicksal im Fokus bleiben. Vielleicht ist Humanismus die einzige Glaubensrichtung, die unumstößlich ist.
Ist es schwer für diese Menschen, sich in Österreich zurecht zu finden? In einem Land, das seine Kultur – provokant formuliert – auf Bier und Schweinefleisch aufbaut?
(Lacht) Ich habe das noch nie so provokant gefragt. Vielleicht sollte ich die Flüchtlinge fragen, wie sie Österreicher als Typen sehen, was sie von diesem klassischen Deix-Bild halten. In der Therapie bin ich es, der den Klienten als Vertreter der österreichischen Kultur gegenübersitzt. Einmal habe ich einen scherzhaft gefragt, wie das für ihn wäre, wenn ich eine seiner Töchter heiraten würde. Er sagte das ginge nicht, weil ich kein Moslem bin. Das war zwar meinerseits ein Witz, aber ich habe mich trotzdem von diesem sehr sympathischenMann "ausgegrenzt" gefühlt. Vielleicht war es aber auch ein Vorwand, weil ich ihm nicht als Schwiegersohn gefallen hätte (lacht).
Sie mussten noch nie Österreich erklären?
Das kommt schon vor: dann mache auch ich manchmal geschichtliche Exkurse. Zum Beispiel wenn man Frauen die feministische Emanzipationsbewegung erzählt und dass das auch bei uns nicht immer selbstverständlich war. Ich versuche damit zu zeigen, dass das eine gesellschaftliche Entwicklung ist und nichts Festgefahrenes, Gottgegebenes. Manche Klientinnen können das oft gar nicht glauben und müssen bestärkt werden: Ja, das dürfen Sie,ja doch, das können Sie hier! Aber damit kein falsches Bild entsteht:Die meisten meiner Klientinnen sind beeindruckend stark. In der Sexualität ist ihnen vielleicht nicht alles erlaubt, aber im täglichen Existenzkampf, gerade als Singlefrau oder allein erziehende Mutter,können sie sich beeindruckend behaupten. Die Idee aber, dass sie sich einen anderen Mann nehmen könnten, ist ihnen oft verboten, da haben sie auch Angst vor der community.
Können Sie abschätzen, wie viele Flüchtlinge, die zu Ihnen kommen, akut Hilfe brauchen, weil sie etwa Schlaf- oder Angststörungen haben?
Fast alle. Das sind ganz typische Traumafolgestörungen. Bei der Traumatherapie von Asylwerben geht es primär einmal um Stabilisierung als um Konfrontation. Viele können am Anfang gar nicht über Ihre Erlebnisse sprechen, erst nach Monaten oder Jahren schaffen sie es, wenn überhaupt, das Erlebte zu verbalisieren. Viele vermeiden es lange, sich zu konfrontieren und das ist oft auch gut so – denn es braucht Stabilität, um sich dem auszusetzen.
Geht es vorrangig um posttraumatische Belastungsstörungen oder welche Themen spielen sonst eine Rolle?
Diese ICD-10 Diagnose ist sehr eng definiert, es müssen dazu viele Kriterien erfüllt sein. Ich nenne es lieber Traumafolgestörungen: alles, was in Folge eines Traumas passieren kann. Schlafstörungen sind fast immer dabei, Konzentrationsschwächen sehr häufig, ebenso Depressionen, Ängste. Kriegsflüchtlinge, die zu uns kommen, haben fastimmer Schreckliches erlebt. Es reicht aber schonaus,in einer Kriegsregion ständig wegen der Bedrohung unter einem extrem hohen Stresslevel zu stehen – wie viele der Klienten aus Afghanistan, da braucht es nicht ein einzelnes dramatisches Ereignis.
Tun sich Jugendliche leichter in der neuen Umgebung als Erwachsene?
Wir behandeln bei SintemKlienten erst ab 16 Jahre. Es ist bei den Jungen manchmalschwieriger, eine Beziehung aufzubauen. Man merkt, dass sie so ganz ohne Familie sehr verstört sind und sich bemühen, hier Fuß zu fassen. Einige brauchen lange, um sich hier zurecht zu finden, über das Erlebte zu sprechen oder überhaupt Termine einzuhalten. Gerade junge Männer haben oft eine ganz andere Vereinbarungskultur.
Wie lange wartet man bei der Flüchtlingstherapie der Caritas (Sintem) in etwa auf eine Therapie?
Momentan sind es etwa neun Monate ab Anmeldung. Oft dauert es lange, bis die Menschen wissen, dass es unser Angebot überhaupt gibt. Häufig erkennen Betreuer mehr Bedarf anTherapie als die Betroffenen selbst. Viele der Flüchtlinge haben ja auch gar keine Idee davon, was eine Psychotherapie überhaupt ist.
Welche Rolle spielt die Bildung beim Therapieerfolg?
Bei manchen Klientinnen, die nur wenig bis keine Bildung genossen haben, frage ich mich schon manchmal, ob eine zu stark auf das Verbale ausgerichtete Therapie überhaupt zielführend ist.In manchen Regionen Afghanistans ist Frauen die Bildung ja komplett untersagt. Aber prinzipiell geht es ja nicht nur um Reflexion, sondern um das grundlegende Gefühl, einen sicheren Ort mit einem wohlwollenden Menschen gefunden zuhaben.
Vielleicht haben viele Klienten davor noch nie wirklich über ihre Gefühle gesprochen.
Das ist sicher richtig. Vielleicht ist es nur bei uns so, dass wir glauben, einfach immer über alle unsere Gefühle sprechen zu können. Das ist anderswoüberhaupt keine Selbstverständlichkeit und hat auch nichts mit Mann-oder Frausein zu tun. Der größere Unterschied ist, dass wir in einer Selbstverwirklichungskultur geschult sind, unsere Individualität vor allem über Emotionen zu zeigen, während das woanders gar nicht wichtig ist. Man muss auch davor Respekt haben. Der Soziologe Richard Sennet hat bei uns eine Tyrannei des Intimen ausgemacht. Vielleicht übertreiben wir es ja manchmal auch mit der Nabelschau.
ZUR PERSON
Daniel Ritter, geboren 1968 in Wien, hat Jus und Dramaturgie studiert. Es folgte eine Ausbildung in Psychotherapie, 2008 bis 2012 war er psychotherapeutischer Mitarbeiter der Psychosomatischen Abteilung im Wiener AKH. Seit 2014 leitet Ritter die Flüchtlingstherapie der Caritas Wien Sintem.
Ein Gespräch mit Huda, einer Klientin aus Idlib finden Sie hier.