Zum Hauptinhalt springen

Therapie ohne Drogenverzicht

Von Werner Grotte

Wissen

Ziel soll ein erfülltes Leben sein. | Behandlung muss individuell erfolgen. | Module gehen von Arbeits-Suche bis zur Philosophen-Schule. | Wien. Drogentherapie hat etwas religiöses. Nur wenige Institute befassen sich damit; jene, die das tun, predigen verschiedene "Schulen", sprich: Heilmethoden. In einem zentralen Punkt waren sich Experten bisher allerdings weitgehend einig: Als erfolgreich galt eine Therapie dann, wenn der zu heilende danach drogenfrei war.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 15 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Dieser eherne Grundsatz wird nun ausgerechnet durch einen der bisher schärfsten Verfechter außer Kraft gesetzt: Spezialisten des Anton Proksch Institutes (API) stellten am Donnerstag in Wien neue Therapie-Grundsätze vor, in denen es primär darum geht, Patienten von der Sucht wegzuführen, indem man ihnen hilft, ein erfülltes Leben zu führen. Wenn dazu (auch) der Konsum von Drogen gehört, muss das den Therapieerfolg nicht in Frage stellen.

Fünf Jahre lang haben Suchtforscher rund um API-Primarius Michael Musalek das sogenannte "Orpheus-Programm" mit Abhängigen aller Art, von Alkohol- bis Internet-Sucht, getestet. "Zentraler Punkt dabei war der Einsatz individueller Module. Denn wir gehen davon aus, dass jeder Mensch in irgendeiner Form suchtgefährdet ist", sagt Musalek. Es gebe weder ein eigenes "Sucht-Gen" noch einen "Sucht-Typ" und daher auch keine Einheits-Therapie.

Dazu kommt, dass die Drogentherapie vielfach von der Realität überholt wurde: Rückfallsquoten von mehr als 80 Prozent der Behandelten haben etwa am Heroin-Sektor dazu geführt, dass man den begehrten, aber illegalen "Stoff" durch legale Substitution ersetzte. Mehr als 10.000 Österreicher bekommen bereits Opiate wohldosiert und rein in der Apotheke - was nicht nur vielen wieder in ein normales Leben zurückgeholfen hat, sondern auch die illegale Heroinszene stark reduzieren half.

Doch Substitution funktioniert nur bei Stoffen, die trotz Suchtpotenzials nicht zelltoxisch, sprich giftig sind wie etwa Kokain oder Alkohol, die bei regelmäßigem Konsum auch in reiner Form Herz, Leber, Hirn und andere Organe schädigen.

"Wichtig ist einfach, dass wir die Betroffenen aus ihrem Umfeld herausführen und ihnen helfen, das Leben auf gesunde Art und Weise zu genießen, einen Sinn darin zu sehen und Selbstwertgefühl aufzubauen. Das kann aber nicht funktionieren, wenn sich jemand ständig zusammenreißen muss und alle soziale Kontakte einstellt, nur um nicht zum Rauchen oder Trinken verführt zu werden", erklärt Musalek.

Auch hier war die Realität Ursache des Paradigmenwechsels - bei vielen sogenannten "neuen Süchte" wie Konsum- oder Internet-Abhängigkeit ist totale Abstinenz in der Praxis einfach nicht mehr möglich.

Die im "Orpheus"-Programm angebotenen Module versuchen auf all das eine Antwort zu geben. Der Patient kann wählen zwischen Gartenarbeit, Malen und Gestalten, Aktivgruppe, Kreativwerkstatt, Lernen und beruflicher (Re-)Integration, physikalischer Behandlung, Körperwahrnehmung, Bewegung und Sport, Qigong, aktivem Erwachen, Soziotherapie, Kultur- und Freizeitprogramm, Genusstraining und "philosophischem Café".

"Die Kombination ist unterschiedlich. Bei vielen Patienten ist psychische Krankheit Ursache der Abhängigkeit, oft ist auch das Fehlen eines Arbeitsplatzes zentraler Angelpunkt aller Schwierigkeiten. Anderen wiederum hilft der Zugang zu philosophischen Denkschulen, ihr inneres Gleichgewicht wieder zu finden", sagt Musalek.

"Gefährdet ist jeder"

Die Experten veröffentlichten auch Zahlen: Rund 870.000 Österreicher gelten als alkoholgefährdet, 330.000 bereits als abhängig, wobei die Zahl der Männer sinkt, die der Frauen stark steigt. Nikotinsüchtig sind 1,5 Millionen; als medikamentenabhängig gelten 120.000; Spiel-Süchtigen werden auf 50.000 geschätzt; die Zahl jener, die bis zu 18 Stunden täglich vor dem Computer sitzen, dürfte bei rund 80.000 liegen; zu exzessivem Konsumverhalten neigen rund 600.000 Österreicher. Eher bescheiden nehmen sich dagegen die knapp 30.000 Konsumenten illegaler Sucht-Drogen aus.