Ein Rechtsgutachten zum Brexit-Deal verstärkt den Widerstand im britischen Parlament. Es geht wieder einmal um die irische Grenze.
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London. "63 Minuten Chaos" - die charakteristischen, übergroßen Buchstaben nehmen am Mittwoch die halbe Titelseite des britischen Boulevardblatts "Daily Mirrow" ein, darunter das Gesicht von Premierministerin Theresa May. "Erniedrigend" sei ihre Rede vor dem Parlament gewesen, ihre Autorität sei "in Stücke gerissen", Großbritannien befinde sich "auf Messers Schneide".
Ihren ersten herben Dämpfer musste May gleich zu Beginn der Brexit-Debatte im Londoner Parlament einstecken. Mit einem Antrag zwangen die Abgeordneten sie, ein für die Regierung erstelltes Rechtsgutachten im Wortlaut zu veröffentlichen. May hatte das zuvor abgelehnt und nur eine Zusammenfassung freigegeben - aus gutem Grund, wie sich nun herausstellt. Großbritannien, so das Gutachten, könnte "auf unbestimmte Zeit" in der "Backstop"-Regelung festsitzen, sollten die Abgeordneten in Westminster kommende Woche für das Scheidungsabkommen stimmen, das May mit der EU ausgehandelt hat.
Die irische Grenze spielt also wieder einmal die Hauptrolle beim Disput in London: Damit es auf der irischen Insel keine "harte Grenze" inklusive Kontrollen und Schlagbäumen gibt, soll Großbritannien vorerst in der Zollunion blieben - bis eine bessere Lösung gefunden ist. So weit Mays Plan. Allerdings könnte das Vereinigte Königreich diese Zollunion erst verlassen, nachdem es ein Freihandelsabkommen mit der EU ausgehandelt hat - und das kann Jahre dauern. Mit der Backstop-Lösung riskiere das Königreich "langwierige Verhandlungen" mit der EU, warnt das Gutachten. London dürfte in dieser Zeit keine neuen Handelsabkommen mit Drittstaaten abschließen.
Am härtesten trifft der Backstop ausgerechnet jene, auf deren Unterstützung Mays Minderheitsregierung angewiesen ist. Die nordirischen Protestanten von der Democratic Unionist Party (DUP). Diese bekämpfen alles, was Nordirland vom Rest des Vereinigten Königreichs entfernen und näher an die Republik Irland heranrücken könnte. Mit dem Backstop bliebe Nordirland über den gemeinsamen Binnenmarkt enger an EU-Regeln gebunden. "Verheerend", nennt das DUP-Vizechef Nigel Dodds. Das Gutachten beweise, dass nicht das gesamte Königreich, sondern lediglich Nordirland in der Zollunion bleiben würde, so Dodds am Mittwoch auf Twitter. Die Vorstellung, dass es in einem solchen Szenario Kontrollen in der Irischen See - also zwischen Nordirland und Großbritannien - geben könnte, sorgt bei den Unionisten der DUP für aufgestellte Nackenhaare.
Doch die nordirischen Unionisten sind nicht die Einzigen, die Mays EU-Vertrag ablehnen. Auch die Opposition ist dagegen, ebenso ein Großteil von Mays konservativen Tories. Labour-Chef Jeremy Corbyn suhlt sich in der Aneinanderreihung von Niederlagen, die May einstecken muss - und verbreitet die Schmähungen des Boulevards fleißig in den Sozialen Medien. Stimmt das Parlament am Dienstag gegen das Abkommen, dann darf es beim weiteren Vorgehen mitbestimmen. Auch das haben die Abgeordneten durchgesetzt.
Man könnte fast meinen, dass die Einzigen, die noch an Mays Deal glauben, in Brüssel sitzen. "Wir bereiten uns auf das Abkommen vor", sagte der Vizepräsident der EU-Kommission Valdis Dombrovskis am Mittwoch. Man habe sich mit der britischen Regierung auf ein Abkommen geeinigt, nun stelle man sicher, dass es auch umgesetzt werden könne. Allerdings arbeite man parallel auch an einem Notfallplan.