Eine gepflegte Streitkultur ist der Deutschen Sache nicht - allenfalls ideologisches Gegrummel. Die Schwarz-Weiß-Diskussion um Thilo Sarrazins Buch und dessen provokante Äußerungen ist eine Bankrotterklärung für die intellektuelle Klasse in Deutschland.
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Man kann zu dem Verfasser des Buches "Deutschland schafft sich ab" stehen, wie man will - eines verbietet sich jedenfalls von selbst: die Verweigerung einer sachlichen Auseinandersetzung, das Abwürgen einer Diskussion, um zu einem fundierten Urteil zu kommen.
Erschreckend ist aber noch etwas ganz anderes: nämlich dass Deutschland derzeit über keine herausragenden Köpfe verfügt, die in der Lage sind, sich in die Causa Sarrazin einzuschalten, ihn zu versachlichen und die Fakten durchzudeklinieren. Das ist eine Katastrophe für jedes aufgeklärte Gemeinwesen.
Ein Blick nach Frankreich zeigt, dass es anders geht - gehen muss. Es ist richtig, dass der Intellektuelle dort in der Politik traditionell tiefer verwurzelt ist. Das hat historische Gründe. Fakt ist, dass die Übergänge von Politik und Philosophie in Frankreich fließender sind, dass Respekt voreinander besteht, dass der "Esprit" der Gradmesser für die Auseinandersetzung ist - sprich die Eintrittskarte für den Discours. Der legendäre General Charles de Gaulle soll einmal gesagt haben, als es darum ging, den Philosophen Jean-Paul Sartre wegen der Herausgabe von verbotenen linksradikalen Zeitungen zu belangen: "Einen Voltaire verhaftet man nicht!"
Umso bedauerlicher ist es, dass die intellektuelle Klasse in Deutschland nicht einmal den Versuch unternimmt, sich der "Notlage" anzunehmen. Dabei würde es schon genügen, einfach eine öffentliche Diskussion anzuzetteln, damit der Fall Sarrazin außerhalb des politischen Empörungsgewitters verhandelt werden kann.
Wie man das macht, zeigt derzeit der französische Philosoph Bernard-Henri Lévy, der sich in die hitzige Diskussion um die deftigen Vorschläge des französischen Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy zur "inneren Sicherheit Frankreichs" eingeschaltet hat. Lévy zwingt den Staatspräsidenten zur Auseinandersetzung, indem er sich öffentlich äußert. Macht seines Namens garantiert Lévy eine Debatte auf hohem Niveau.
Damit ist nicht der Eitelkeit gedient, sondern der Würde des Themas. Wir sollten die Besprechung von Sarrazins Buch vielleicht besser französischen Geistesgrößen vom Schlage eines Bernard-Henri Lévy, eines Alain Finkielkraut oder auch des kratzigen Debattierers Daniel Cohn-Bendit überlassen. Dem Thema würde es zumindest gerecht.
Alexander von der Decken ist Redakteur in Bremen, hat Philosophie und Romanistik studiert und in Spanien, Frankreich und Italien gelebt.