Der österreichische Autor Thomas Glavinic über den Erfolg seines Romans "Die Arbeit der Nacht", die Alpträume, die damit verbunden sind, und warum die deutschsprachige Literatur international so verrufen ist.
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Wiener Zeitung:Herr Glavinic, Ihr neuer Roman, "Die Arbeit der Nacht", ist seit Wochen ganz vorne auf den Bestsellerlisten zu finden. Sie reisen von Lesung zu Lesung, von Festival zu Festival. Was hat sich für Sie in dieser Zeit geändert?Thomas Glavinic: Im Grunde nichts, außer dass ich weniger zu Hause bin. Aber darüber zu klagen wäre kokett. Das ist es ja, was man will, wenn man ein Buch veröffentlicht, man wünscht sich Aufmerksamkeit dafür.
Wird man solcherart nicht eher zu einem Entertainer als zu einem Schriftsteller?
Diese Gefahr besteht, und man muss sich ihrer bewusst sein. Kürzlich beklagte Mario Vargas Llosa in einem Interview, dass Autoren heute eher Entertainer seien als die moralischen Führer ihrer Gesellschaft. Ich möchte zwar nicht moralischer Führer sein, dafür traue ich mir selbst viel zu wenig über den Weg, aber ein Entertainer schon gar nicht, dafür gibt es Spezialisten. Ich möchte interessante Geschichten auf möglichst hohem Niveau erzählen, Geschichten, die auf mehreren Ebenen funktionieren und an denen auch, aber nicht nur, Menschen mit literaturwissenschaftlicher Vorbildung Freude haben.
Welche Reaktionen auf Ihren Roman haben Sie überrascht?
Im Einzelnen eigentlich keine. Allgemein bin ich etwas überrascht, wie viel Lob und Aufmerksamkeit das Buch bekommt. Der Erfolg freut mich natürlich.
Haben Sie den erwartet?
Ein wenig ja, ein wenig nein. Vor der Veröffentlichung hatten schon einige Menschen das Buch gelesen, ich hatte positive Signale, daher konnte ich davon ausgehen, dass es nicht in Grund und Boden kritisiert werden würde. Ich hatte ein gutes Gefühl beim Schreiben. Es war schön, diesen Roman zu schreiben - und zugleich recht unangenehm.
Wieso unangenehm?
Ich musste mich fast drei Jahre lang täglich in Angstzustände hineinversetzen. Ich war stundenlang dieser beklemmenden Situation ausgesetzt, der totalen Isolation, Tag für Tag. Erst nach Monaten spürte ich allmählich, was das bedeutet, wie das auch mich verändert.
Es hat einige Türen in mir geöffnet, die besser zugeblieben wären. Für konventionellere literarische Stoffe bin ich vorerst verloren, denn ich bewege mich noch immer in diesen Alptraumwelten - davon werden wohl auch noch meine nächsten Arbeiten handeln.
Das heißt, Sie haben mit dieser alptraumhaften Vision eines Menschen in einer menschenleeren Welt auch eigene Ängste aufgerührt, aber scheinbar nicht überwunden.
Ich glaube nicht an Schreiben als Therapie. Manchmal kann man eigene Neurosen fürs Schreiben nutzen. Andere Menschen leiden nur daran, ich kann sie wenigstens kreativ einsetzen, aber sie verschwinden damit nicht, im Gegenteil, ich werde mir ihrer dadurch noch bewusster.
Welche besonderen Ängste kamen in Ihnen bei der Arbeit an diesem Buch hoch?
Vor allem die Angst vor Einsamkeit - und die vor Kontrollverlust. Ich glaube, das sind die Urängste schlechthin, mit denen jeder auf seine Art fertig werden muss.
Wie war denn die Genese des Romans? Waren zuerst die Ängste da - und Sie suchten quasi eine Geschichte dazu?
Nein, umgekehrt, die Geschichte war zuerst da, und ich wusste nicht, dass sie sich zu einem solchen Horror auswachsen würde. Ich hatte dieses Bild von einem Mann vor mir, der aufwacht und allein ist. Ich ahnte aber nicht, dass es derart ins Alptraumhafte hinein gehen würde, ins absolut Existenzielle. Mein letztes Buch, "Wie man leben soll", war ja sehr locker, flockig und heiter, und ich war selbst nicht darauf gefasst, dass ich bei dem neuen so ins Dunkle hineingeraten würde.
Hatten Sie geglaubt oder gehofft, dass "Die Arbeit der Nacht" vielleicht auch humorvoll ausfallen könnte?
Nein, mir war klar, dass an dem Stoff für mich nichts Lustiges dran ist. Ich habe im Nachhinein festgestellt, dass Herbert Rosendorfer in seinem Roman "Großes Solo für Anton" eine ähnliche Geschichte eher humoristisch behandelt hat. Ich hatte einen anderen Zugang. Ich werde vermutlich auch nicht der letzte Autor sein, der dieses Motiv bearbeitet.
Neben dem Roman von Rosendorfer gibt es noch einen zweiten, mit dem Ihrer gerne verglichen wird, und zwar "Die Wand" von Marlen Haushofer. Sehen Sie da Ähnlichkeiten?
Ich habe ihn, offen gestanden, nicht gelesen, aber in dem, was ich darüber weiß, sehe ich keine Gemeinsamkeiten. Bei Haushofer kann, soviel ich weiß, die Hauptfigur ihr unsichtbares Gefängnis nicht verlassen, draußen hingegen leben die Menschen normal weiter - das ist bei mir nicht so. Die Bücher sind wohl thematisch verwandt, aber meine Idee war eine andere. Angeblich gibt es noch zwei oder drei weitere Bücher, die eine ähnliche Grundidee haben, aber auch die habe ich nicht gelesen, denn ich wollte mich davon nicht beeinflussen lassen.
Wussten Sie zu Beginn des Buches eigentlich schon, wie es enden würde?
Nicht genau, aber doch im Wesentlichen. Es gibt Leser, die hätten sich eine Art Auflösung am Schluss gewünscht, also eine Erklärung, wie alles gekommen ist. Aber das ist literarisch nicht zu bewerkstelligen, wäre unglaubwürdig. Der eine oder andere Leser hat vielleicht überlegt, ob der Held am Ende aus einem Komatraum oder dergleichen erwacht. Aber solch eine Vision aufzubauen und dann zu sagen: alles zurück, es gilt nicht, das wäre literarisch feige.
Auch wenn Ihre Geschichte in sich schlüssig ist, so ist sie doch keine realistische Erzählung. Es gibt zum Beispiel den mehrfach geäußerten Einwand, dass sich Jonas auf leeren Straßen fortbewegen kann. Die Autos sind aber - im Gegensatz zu den Menschen - nicht verschwunden. Warum sind die alle brav eingeparkt und stehen nicht auf den Straßen herum?
Stünden alle Autos als Hindernisse auf der Straße herum, wäre die Situation, auch wenn sich das etwas unverständlich anhört, viel rationaler, viel leichter zu begreifen - im Sinne einer plötzlichen Katastrophe oder Ähnlichem. Mir ging es um etwas anderes, um etwas tatsächlich nicht Begreifbares. Die Menschen sind quasi mit und in ihrer Situation verschwunden. Dadurch entsteht eine noch bedrohlichere Stimmung. Das ist keine realistische Erzählung - und ich als Autor bestimme die Regeln. Wenn ich sagen würde: Es gibt Gespenster, dann gibt es Gespenster. Als Autor muss ich mich nur an meine eigenen Regeln halten, ich darf sie allerdings nicht beliebig ändern. Also: keine überzähligen Autos. Sonst wäre es eine andere Geschichte - und die hätte eine andere Stimmung.
Sie lassen Ihre Geschichte großteils in Wien spielen. Sie könnte sich aber genauso gut woanders ereignen.
Selbstverständlich, denn wenn die Welt leer ist, ist es gleichgültig, wo man wohnt.
Wobei die Wege in Wien, die in dem Roman beschrieben werden, Ihnen sehr vertraut sind. Sie bringen sich an einer Stelle sogar selbst in die Handlung ein, indem Jonas in die Wohnung eines Schriftstellers eindringt, in der Ihre Bücher stehen - und Ihre Schreibmaschine.
Ja, aufmerksame Leser werden das erkennen. Das war jedoch mehr als nur ein Scherz für Eingeweihte. Ich hatte Gänsehaut, als ich schrieb: "Hier stehe ich und schreibe diesen Satz." Das schreibt Jonas auf meiner Schreibmaschine, und ich schrieb es in diesem Moment und dachte an ihn.
Eine der Rezensionen, die das Buch sehr populär gemacht und viel zum Verkaufserfolg beigetragen haben, war jene von Daniel Kehlmann im "Spiegel", die sehr enthusiastisch ausfiel. Nun gab es da und dort Kritik, da Sie mit Kehlmann befreundet sind. Können Sie diese Kritik nachvollziehen?
Nein. Erstens ist das eine Unverschämtheit, weil es dem Rezensenten Unredlichkeit unterstellt. Zweitens: Hat ein Autor Sprechverbot über das Werk eines anderen, nur weil er ihn kennt? In dem Moment, da jemand seinen Namen unter einen Text setzt, bürgt er für das, was er darüber schreibt. Daher kann jeder dieses Urteil nachprüfen - und darüber befinden, ob es sachlich korrekt ist oder nicht.
Der Vorwurf war, dass es sich um einen Freundschaftsdienst gehandelt hat, um "Amigo-Politik", eine Art Seilschaft in der österreichischen Szene.
Das hat allerdings nur ein Wiener Autor in einer Internetkolumne behauptet, der selbst kürzlich ein Buch in einem Kleinverlag herausgebracht hat. Da spricht also wohl Neid aus ihm. Der literarische Markt ist ein Kampf um Aufmerksamkeit - und mancher, der selbst nicht so viel davon erhält, reitet leider solche Angriffe. Ich finde, dass Autoren recht wohl über das Werk anderer Autoren sprechen dürfen, auch wenn sie sich kennen. Nebenbei bemerkt glaube ich, dass die meisten Rezensenten in Österreich die Autoren kennen, deren Werke sie besprechen. Wir leben in einem kleinen Land.
Bleiben wir bei Daniel Kehlmann, dem derzeit erfolgreichsten Autor, den Sie erst kürzlich bei einer Lesung beim "Philosophicum" in Lech, wo er krankheitsbedingt absagen musste, ersetzten. Fühlen Sie sich in dessen Fußstapfen?
Nein. Solch ein immenser Erfolg ist nicht planbar; auch Kehlmann hat ihn nicht geplant. Es ist ein Ausnahmefall, aber "Die Vermessung der Welt" ist auch ein Ausnahmebuch, ganz bestimmt das literarisch Anspruchsvollste von all den Büchern, die hunderttausende Exemplare verkaufen. Da kann man nur gratulieren - und sich freuen, dass es möglich ist, mit Qualität und Anspruch ein so großes Publikum zu erreichen.
Nun haben Kehlmann und auch Arno Geiger, der im Vorjahr für seinen Roman "Es geht uns gut" den "Deutschen Buchpreis" erhalten hat, die Chancen für österreichische Autoren auf dem deutschsprachigen Buchmarkt deutlich erhöht.
Ja, Gott sei Dank. Aber dafür ist die deutschsprachige Literatur auf dem internationalen Markt nach wie vor nicht besonders erfolgreich. Auf der ganzen Welt kann man mit deutschsprachiger Literatur die Verlage eher ab- und die Leser verschrecken. Weil hier jahrzehntelang eine so unoriginelle, mutlose Literatur geschrieben wurde, die zudem ständig dekretiert hat, was man als Autor darf und was nicht, von der "Gruppe 47" in Deutschland bis zu den "Sprachkritikern" in Österreich. Das hat die gesamte deutschsprachige Literatur in der Welt zu Recht in Verruf gebracht.
Stichwort "Deutscher Buchpreis", der heuer zum zweiten Mal bei der Frankfurter Buchmesse vergeben wird. Was halten Sie davon?
Ich finde, dass dieser Preis den Autoren nicht nützt. Es ist ein reiner Literaturbetriebs-Preis. Wenn man ein Buch des Jahres küren will, wozu dann diese Qual?
Welche Qual?
Diese Qual der Vorauswahl. Zuerst werden zwanzig Bücher genannt - da müssen schon einmal alle Autoren hoffen, dass sie mit dabei sind. Dann schrumpft das auf sechs Autoren zusammen - da ärgern sich schon vierzehn. Die anderen hoffen weiter - und dann bekommt ihn doch nur einer. Die anderen fünf müssen gute Miene machen. Das ist demütigend. Wenn man so einen Preis vergeben will, soll man einfach auf der Buchmesse bekannt geben: Der ist es. Ohne monatelanges Spektakel.
Sie waren bei der heurigen Vorauswahl nicht dabei. Hat Sie das geärgert?
Mein Gott, so sind halt Jury-Entscheidungen. Ich bin schon öfter bei diversen Preisen leer ausgegangen, habe dafür wiederum andere bekommen. Das ist Lotterie.
Preise und Stipendien sind freilich für die meisten Schriftsteller existenziell notwendig.
Ja, so ist es. Allerdings würde ich mir mehr Transparenz wünschen. In manchen Jurys sitzen seit zwanzig Jahren dieselben Personen - das kann doch nicht im Sinne der Literatur sein. Mehr Bewegung, mehr Offenheit wäre wünschenswert. Dann würden auch nicht immer dieselben Autoren Stipendien bekommen, als hätten sie ein Abo darauf, während andere nie zum Zug kommen. Ich kenne einige sehr gute Autoren, die bei solchen Entscheidungen meist durchfallen. Ich selbst kann mich nicht beklagen - ich habe immer wieder etwas bekommen, was ich auch notwendig hatte, da man vom Schreiben allein bekanntlich nicht leben kann, wenn man nicht ständig Bestseller fabriziert.
Am besten kann man sich als Autor wohl dann verkaufen, wenn man aus sich eine Art "Trademark" macht, indem man immer wieder ähnliche Bücher schreibt. Genau das machen Sie aber nicht, da bisher jeder Ihrer fünf Romane stilistisch anders ausgefallen ist. Natürlich kann man aus dieser Vielfalt auch wieder eine Trademark machen.
Tja, aber dafür braucht man einen langen Atem. Weil ständig über Verkaufszahlen geredet wird: um die geht es mir natürlich nicht, mir geht es um die künstlerische Herausforderung, darum, gute Bücher zu schreiben. Ich nehme bewusst - und gern - mit jedem neuen Buch das Risiko, mich auf ein grundsätzlich anderes Thema, einen anderen Stoff, einen anderen Duktus einzulassen. Bei Kritikern setze ich voraus, dass sie mein Werk kennen - und nicht nur ein Buch von mir. So halten mich manche für einen Krimiautor, andere für den Verfasser historischer Romane, weil sie eben jeweils nur ein Buch von mir gelesen haben, aber nicht mein Werk. Ich will damit eine Stadt bauen, mit unterschiedlichen Häusern, mit einer unverwechselbaren Topographie.
Welches Gebäude wäre darin "Die Arbeit der Nacht"?
In meiner Stadt ist es ein Hochhaus - zumindest sehe ich das derzeit so. Es ist jedenfalls eher ein Hochhaus als eine Schrebergartenhütte.
Und "Herr Susi", Ihr Roman über das steirische Fußballmilieu, wäre demnach ein Abbruchhaus, gleich neben der Grazer "Gruabn"?
Ja genau, das ist die Baracke beim Fußballplatz. Da ist etwas schief gegangen. "Herr Susi" war eine reine Kopfgeburt, die mit mir selbst nichts zu tun hatte. Es war der zweite Roman - und der ist schwierig. Ich hatte einen Vertrag und musste ein Buch abliefern, wusste aber nicht, worüber. In meinen anderen Büchern, die ich alle für mehr oder minder gelungen halte, ist es immer um mich gegangen, um Dinge, die mich berühren. Es müssen, wie Vargas Llosa sagt, die inneren Dämonen aus einem heraus in die Bücher hinein. Nur dann werden sie gut.
Zur Person:
Thomas Glavinic wurde 1972 in Graz geboren, schreibt seit 1991 Romane, Essays, Erzählungen und Reportagen. Er lebt in Wien.
Glavinic zählt mit Kathrin Röggla und Daniel Kehlmann zu jenen jungen Autoren, die das literarische Leben in Österreich wesentlich mitgestalten. Bekannt wurde er mit seinem 1998 erschienenen Debüt "Carl Haffners Liebe zum Unentschieden": Der Roman beschreibt das Leben des Schachmeisters Carl Schlechter. Das Buch wurde mehrfach ausgezeichnet und übersetzt. Im Jahr 2000 folgte der Roman "Herr Susi", eine Abrechnung mit dem Fußballgeschäft, 2001 der Kriminalroman "Der Kameramörder", der für seine Medienkritik gefeiert wurde. 2004 gelang es Glavinic mit dem satirischen Entwicklungsroman "Wie man leben soll", der durchgängig in der "Man-Perspektive" geschrieben ist, Leser wie Kritiker zu überzeugen.
Im August 2006 erschien sein jüngster Roman, "Die Arbeit der Nacht" (Hanser Verlag), der innerhalb weniger Wochen die Spitze der heimischen Bestsellerlisten erklomm. Das Buch handelt von Jonas, der eines Tages irritiert feststellt, dass die Zeitung nicht vor der Wohnungstür liegt und Fernseher und Radio nur Rauschen von sich geben. Bald wird dem jungen Mann klar, dass (nicht nur) Wien menschenleer ist. Ist er der einzige Überlebende einer Katastrophe? Sind alle Menschen geflüchtet? Wenn ja, wovor? Jonas durchstreift die Stadt, die Läden, die Wohnungen und bricht schließlich mit einem Truck auf, um nach Spuren von Menschen zu suchen. Mit wachsender Spannung erzählt Thomas Glavinic davon, was Menschsein heißt, wenn es keine Menschen mehr gibt.
"Ein wundersam großes Buch, ein Roman über das Selbst und die anderen, über Angst und Mut, über die Brüchigkeit jenes Alltags, der uns so fest zu umschließen scheint, und über die unsichere Grenze zwischen Wachheit und Traum - Thomas Glavinics Meisterstück", so schrieb Daniel Kehlmann im "Spiegel".