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Der Kriminalpsychologe Thomas Müller und der Versicherungsdirektor Johann Hauf über die Themen Sicherheit, Mobbing am Arbeitsplatz - und warum persönliche Niederlagen wichtig sind.
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Wiener Zeitung:Stellt man die Frage nach möglichen Parallelen zwischen dem Versicherungswesen und der kriminalpolizeilichen Arbeit, wird ein Thema virulent: nämlich der Aspekt des vorausblickenden Handelns.Johann Hauf: Prinzipiell kann eine Versicherung nichts verhindern, sondern nur den Schaden mildern. Das heißt, die Versicherungsleistung, die jemand erbringt, ist so etwas wie eine Opfergabe, die man im Tempel oder in der Kirche spendet, wodurch man sich Hilfe erhofft. Aber verändern kann man in Wirklichkeit nichts. Man kann nur vorsorgen, dass im Ernstfall der Schaden gemildert wird.
Thomas Müller: Versicherung und Kriminalpsychologie haben eines gemeinsam: sie werden erst dann aktiv, wenn bereits etwas passiert ist. Aber beide trachten danach, auf Grund ihrer Erfahrung irgendwann dahin zu gelangen, etwas verhindern zu können. Nun leben aber alle Menschen, auch die Repräsentanten der Versicherung und der Kriminalpolizei, davon, dass man beizeiten eine Rückmeldung für sein Tun bekommt. Die Frage ist: Wann kriegen Leute, die für eine Versicherung arbeiten, eine gute Rückmeldung? Wenn sie schnell helfen! Wer schnell hilft, hilft doppelt. In der Kriminalpsychologie herrscht eine ähnliche Situation. Es gilt mitzuhelfen, einen Fall möglichst rasch aufzuklären. Dies ist auch der einzige Bereich, wo man mitunter tatsächlich etwas verhindern kann, nämlich unter Umständen einen weiteren Einbruch, eine neue Vergewaltigung, einen nächsten Mord.
Das erinnert mich an einen Satz aus Ihrem jüngsten Buch "Gierige Bestie": "Einmal im Leben wollte ich rechtzeitig kommen, um etwas zu verhindern."Müller: Ja, das ist die Krux an der ganzen Geschichte und gleichzeitig die Antriebsfeder. Denn all die wissenschaftliche Tätigkeit, die Vorlesungen an Universitäten, die Gespräche und Fallbearbeitungen wären den ganzen Aufwand ja nur wert, wenn man dadurch einen einzigen Fall verhindern könnte. Aber die Krux für uns beide ist: Wir werden es nie erfahren. Kein Hausbesitzer, bei dem nicht eingebrochen worden ist, kein Mensch, der keinen Unfall erlitten hat, wird zu Herrn Hauf gehen und sagen: Herr Generaldirektor, ich danke Ihnen! Und es kommt auch niemand zu mir und sagt: Danke, es ist nichts passiert. Andererseits aber treibt mich - und soweit ich Herrn Hauf kenne, auch ihn - die Philosophie an, dass immer der Mensch im Zentrum zu stehen hat. Wir können zwar nicht verhindern, dass etwas passiert. Aber wenn etwas passiert ist, können wir den Menschen das Gefühl vermitteln, dass es Leute gibt, die ihnen helfen.
Abgesehen von Ihrer Tätigkeit als Generaldirektor der Österreichischen Beamtenversicherung sind Sie, Herr Hauf, auch Präsident des Vereins "Polizei aktiv". Außerdem gibt es - wie ja gerade angeklungen ist - auch einen persönlichen Kontakt mit Herrn Müller. Wie kam der zustande?Hauf: Uns verbindet eine ähnlich verbrachte Jugend. Daher sehen wir die Welt aus vergleichbaren Perspektiven. Davon abgesehen hat Thomas Müller seine Laufbahn als Polizist begonnen, und ich versichere Polizisten. Wobei mich Polizisten nicht nur als Versicherungsobjekte, sondern vor allem als Staats- und als Mitbürger interessieren. Ich frage mich oft, was diese Menschen dazu treibt, so einen Job zu tun. Einen Job, der sehr schwer und psychologisch oft nicht verkraftbar ist. Das heißt, mein persönliches Interesse geht über das Versicherungstechnische weit hinaus.
Herr Müller, zuletzt haben Sie sich vermehrt mit dem Thema Mobbing und Gewalt am Arbeitsplatz beschäftigt. Wie kam es dazu?Müller: Weil mittlerweile jeder fünfte Selbstmord auf Mobbing zurückgeht. Man kann nicht oft genug betonen, wie wichtig es ist, dass Menschen in jeder Lebenssituation menschlich behandelt werden. Manchmal fragt mich Johann Hauf: Was kann man tun, damit die Leute in einer Firma miteinander reden? Und jetzt komme ich zum persönlichen Bereich: Johann Hauf hat sich die Freiheit genommen, zu sagen: Ich muss mit Zahlen und Geld operieren, habe mein Budget, meine Vorgaben, aber trotzdem bin und bleibe ich ein Mensch. Diese Einstellung hat uns vielleicht zusammengebracht. Stichwort Kommunikation: Was kann man in der Praxis tatsächlich tun, um das firmeninterne Gesprächsklima zu verbessern? Oder anders gefragt: Was dringt de facto an persönlichen Problemen der Mitarbeiter bis in die Chefetage vor?
Hauf: Nicht alles, das ist klar. Grundsätzlich aber wissen meine Mitarbeiter, dass meine Tür für sie immer offen ist. Außerdem sollte man häufig sein Büro verlassen und Kontakt zu den Mitarbeitern suchen. Das kostet natürlich Zeit, Kraft und Einsatz, vermittelt aber den Mitarbeitern das Gefühl, dass man sie schätzt.
Müller: Wenn ich in Institutionen eingeladen werde, wo Verbrechen am Arbeitsplatz begangen wurden, kommt automatisch die Frage: Was kann man jetzt konkret tun? Die Antwort ist eigentlich sehr einfach: Ich sage, ihr dürft nicht vergessen, dass reines Fachwissen niemals die Lebenserfahrung ersetzen kann. Menschen werden nicht weise, indem sie ständig Erfolg haben. Sondern sie werden weise, indem sie Misserfolg haben und lernen, damit umzugehen. Deshalb ist es geboten, rein fachlich intelligente Personen mit solchen zusammenzubringen, die eine pragmatische Lebenserfahrung mitbringen. Gemäß dem Grundsatz: Ehret das Alter. Das ist fast schon ein gesellschaftspolitischer Ansatz.
Aber ich kenne Institutionen, die jedes Jahr zehn Prozent der schlechtesten und zehn Prozent der ältesten Mitarbeiter kündigen. Ich halte das für falsch. Nicht nur aus ethischen Gründen, sondern weil es psychologisch gesehen ein Unsinn ist. Denn das bedeutet ja, dass ich älteren Menschen, die Lebenserfahrung besitzen, die Möglichkeit nehme, den Jungen eben diese zu vermitteln. Außerdem empfehle ich einen unabhängigen Beschwerdeweg. Die Isolation einzelner Mitarbeiter in Betrieben ist ein gravierendes Problem. Daraus können schwere Mobbingfälle entstehen.
Hauf: Wenn ich mit einer Beschwerde oder einem Problem konfrontiert werde, dann muss ich mich damit auseinandersetzen, darf aber die vorgelagerten Gremien nicht übergehen. Wichtig ist natürlich auch, die Probleme mit den zuständigen Leuten im Vieraugengespräch und nicht in der Gruppe zu besprechen. Wenn ich jemanden coram publico fertig mache, schaffe ich mir einen Todfeind.
Wenn Sie in eine Institution gerufen werden, wo etwas am Arbeitsplatz passiert ist, wer ist dann dort Ihr Ansprechpartner?Müller: Alle. Deswegen versuche ich immer Räumlichkeiten aufzutreiben, wo große Tische stehen. Da sitzen dann die Personalchefin, die betroffenen Mitarbeiter, jemand aus dem Aufsichtsrat, aus der Geschäftsleitung etc. Das Groteske an solchen Fällen ist oft der Umstand, dass jeder im Vorfeld geahnt hat, dass etwas passieren würde, aber keiner alle Informationen hatte. Indem ich jedem Einzelnen die Möglichkeit vor Augen führe, dass zwar jeder etwas gewusst hat, aber keiner alles gewusst hat, befinden sich alle auf der gleichen Ebene. Und damit hören auch bald die personenbezogenen Schuldzuweisungen auf, die ja nicht zielführend sind.
Die Chinesen sagen: Wenn ein Problem vorhanden ist, gibt es zwei Möglichkeiten: Man kann einen Schuldigen suchen, oder man kann versuchen, das Problem zu lösen. Wenn in einer Firma etwas passiert ist, sind - solange der Schmerz anhält - alle gerne bereit, darüber nachzudenken, wie man es in Zukunft besser machen könnte. Daher muss man die Gunst der Stunde nutzen.
Hauf: Ich bin der Meinung, dass die Menschheit im Großen und Ganzen in Ordnung ist. Für die wenigen Ausnahmen haben wir die Polizei. Allerdings können die wenigen, die nicht mitspielen, enormen Schaden anrichten. Mit diesem Risiko muss ich leben. Wenn ich dieses Risiko nicht akzeptiere, bin ich keine Führungskraft. Wer in der ersten Reihe steht, muss damit rechnen, dass er in irgendeiner Form immer Schwierigkeiten haben wird. Wenn Sie das authentisch vermitteln, werden Sie bemerken, dass Sie die Mitarbeiter auf Ihrer Seite haben. Man muss Vertrauen geben.
Wie sieht das in der Praxis konkret aus?Hauf: Die Methode ist ganz einfach: Ich bitte die Mitarbeiter, ihre Arbeit zu tun, und rede ihnen bei ihrer Tätigkeit nicht allzu viel drein. Ich formuliere nur meinen Wunsch, und dieser Wunsch wird dann - mehr oder weniger gut - erfüllt. Das Ergebnis wird dann mit mir besprochen. Aber noch einmal: Wenn Sie Vertrauen geben, kriegen Sie es größtenteils zurück.
Zum Thema Sicherheit: Welche Schritte lassen sich setzen, um in der Bevölkerung das Gefühl von Sicherheit zu steigern?Müller: Wir leben in einer grotesken Zeit. Der letzte Braunbär ist vor rund 580 Jahren durch den neunten Wiener Bezirk gezogen. Trotzdem hat es in der gesamten Geschichte noch nie so viele Menschen gegeben wie heute, die so von Ängsten zerfressen sind. Gleichzeitig leben wir in einer Zeit, in der alles auf Geschwindigkeit und Unterhaltung ausgerichtet ist. Dennoch hat es noch nie so viele Menschen gegeben wie heute, die an Tristesse leiden. Wenn ich nun dem allgemeinen Trend folge und mein ganzes Tun auf materialistische Werte ausrichte, dann ist es geradezu vorprogrammiert, dass Ängste mich zerfressen, weil ich das alles ja nie erreichen kann.
Hauf: In der "Zeit" war neulich zu lesen, dass im Jahr 2020 jeder zweite Tote ein Angsttoter sein wird.
Welche Gegenmaßnahmen lassen sich setzen?
Müller: Was das Sicherheitsgefühl betrifft, ist es wichtig, individuell auf den Menschen zuzugehen und ihn zu fragen: Was brauchst du wirklich? Doch man darf den Menschen nicht von seiner eigenen Verantwortung freisprechen. Ich bin der Meinung, dass man sich selbst auch ein bisschen um sein Leben und das der Mitmenschen kümmern muss.
Das heißt, die Verantwortung darf nicht ausschließlich an Exekutive, Politik oder Versicherungsanstalten delegiert werden?Müller: Genau. Man muss sich vielmehr immer wieder fragen, wo man steht und was man tatsächlich braucht. Dann kann man nachjustieren.
Hauf: Die persönlichen Niederlagen sind die interessantesten. Wie man die verkraftet und wegsteckt, das ist entscheidend. Ich persönlich empfinde mich wirklich um viele Erfahrungen reicher aufgrund der Niederlagen, die ich schon erlitten habe.
Müller: Laut Konfuzius gibt es drei Möglichkeiten, Erfahrungen zu sammeln. Erstens durch Nachahmung, das ist die einfachste Art. Zweitens durch eigene Erfahrung, das ist die bitterste Art. Drittens durch Nachdenken, das ist die edelste Weise. Aber wie komme ich dazu? Erst nachdem ich die ersten zwei durchlaufen habe.
Abschließend noch eine Frage zum Thema Sicherheitsgefühl und Angst: An wen wendet sich ein Polizist, wenn er Angst hat?Müller: Wir haben einen ausgezeichneten psychologisch-pädagogischen Dienst, der für alle Mitarbeiter gerade in persönlichen Belastungssituationen zur Verfügung steht. Zum Beispiel bei Post-Shooting-Traumata oder in Stresssituationen. Allerdings darf man eines nicht vergessen: Es ist nach wie vor ein Tabu in unserer Gesellschaft, und speziell in medizinischen oder Sicherheitsberufen, eigene Schwächen zuzugeben. Man stellt den Betroffenen zwar Psychologen und andere Hilfsmittel zur Verfügung, aber diese müssen dann auch angenommen werden. Man muss also in einer kritischen Situation selbst zum Hörer greifen und den psychologisch-pädagogischen Dienst anrufen.
Im privaten Bereich ist die Förderung der direkten Kommunikation und des persönlichen Austausches meines Erachtens nach unglaublich wichtig. Die Gesamtheit ist eben mehr als die Summe aller Einzelteile, das gilt auch für uns Menschen und für unsere Kommunikation.
Zur Person:
Johann Hauf, geboren 1943 in Wien, ist Absolvent der Wirtschaftsuniversität Wien, mit den Spezialgebieten Marketing, Marktforschung und Werbung. 1969 Eintritt in den Österreichischen Arbeiterkammertag, wo er im Referat für Bilanzanalyse und Verkehrspolitik hauptsächlich mit Preisverhandlungen in der paritätischen Lohn- und Preiskommission beschäftigt war. Ab 1973 bei der Internationalen TransportarbeiterFöderation (ITF) in London als Abteilungsleiter für die Binnenverkehrssektionen Eisenbahn, Straßentransport und Binnenschifffahrt tätig. 1977 Ernennung zum stellvertretenden Generalsekretär der ITF.
Seit 1988 ist Johann Hauf Generaldirektor der Österreichischen Beamtenversicherung und für die operativen Bereiche Marketing und Vertrieb, Recht, EDV, Betriebsorganisation, Controlling, Werbung und Öffentlichkeitsarbeit zuständig.
Thomas Müller, geboren 1964 in Innsbruck, war zunächst einfacher Polizist und diente unter anderem beim Mobilen Einsatzkommando. 1983 begann er im österreichischen Innenministerium den Kriminalpsychologischen Dienst aufzubauen. Nebenbei studierte Müller Psychologie, 2001 promovierte er im Bereich Kriminalpsychologie/Forensische Psychiatrie an der Universität Innsbruck.
Durch Kontakte zum amerikanischen FBI und einen Lehraufenthalt in den USA bei Spezialisten der Kriminalpsychologie qualifizierte sich Müller weiter. Er war unter anderem bei der Ermittlung des Briefbombenattentäters Franz Fuchs und der Serientäter Jack Unterweger in Österreich, Horst David und Frank Gust in Deutschland, Mischa Ebner in der Schweiz aktiv.
Thomas Müller ist seit 2005 am Institut für Wissenschaft und Forschung der österreichischen Sicherheitsakademie tätig und agiert als selbständiger Sachverständiger. Sein Buch "Bestie Mensch" war 2004 das meistverkaufte Buch Österreichs und stand mehrere Wochen auf der "Spiegel"-Bestsellerliste.