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Tief im Westen

Von Alexander Dworzak und Martyna Czarnowska

Politik

Die Sozialdemokratie gerät in West- und Südeuropa durch Linksparteien wie Syriza und Podemos unter Druck.


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Brüssel/Wien. 11 aus 28. Das ist die magere Ausbeute an sozialdemokratischen beziehungsweise sozialistischen Staats- und Regierungschefs in der EU. Auch bei den großen Fünf - Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien und Spanien - befindet sich die Linke in der Minderheit. François Hollande residiert im Pariser Élysée-Palast sowie Matteo Renzi im römischen Palazzo Chigi. Dagegen ist die Konservative Angela Merkel seit 2005 unangefochtene Hausherrin im Berliner Kanzleramt - auch mithilfe von zwei SPD-Regierungsbeteiligungen. Und der britische Premier David Cameron fürchtet viel mehr den rabiat anti-europäischen Nigel Farage (UK Independence Party) als seinen Herausforderer von der Labour Party, Edward Miliband. Trotz der Finanzkrise, die in eine veritable Wirtschaftskrise mündete, mündete die laute Kritik an der Austeritätspolitik nicht in Wahlerfolgen der Sozialdemokratie.

Dieser droht mittlerweile sogar Gefahr von neuen Linksparteien. In Griechenland kann Alexis Tsipras dieses Wochenende Historisches schaffen und mit seiner Syriza die Wahl gewinnen; einem Sammelbecken von Gruppierungen aus dem trotzkistischen, marxistischen und maoistischem Spektrum samt Linkssozialisten und Altkommunisten. Seit dem Ende der Militärdiktatur stellten (mit kurzer Ausnahme von Unabhängigen) nur zwei Parteien den Premier: die sozialistische Pasok oder die konservative Nea Dimokratia. Demoskopen prognostizieren der Pasok nun ein Debakel, sie käme laut Umfrage für den Sender "Mega TV" auf nur 5,1 Prozent. Sogar die faschistische "Goldene Morgenröte" hätte demnach mehr Stimmen. Die einst stolze Pasok zerfleischt sich selbst, ihr Ex-Parteichef Giorgos Papandreou tritt mit einer eigenen Liste an - die unter ferner liefen rangiert. Die Sozialdemokraten haben in Griechenland buchstäblich abgewirtschaftet, personell wie inhaltlich. Sie tragen als kleiner Koalitionspartner den Sparkurs von Regierungschef Antonis Samaras mit, anstatt linke Alternativen zu liefern. Diese inhaltliche Lücke füllt nun Syriza aus. Alexis Tsipras fordert einen Schuldenschnitt für das Land, das mit 175 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in der Kreide steht. Das Ziel der Maastricht-Kriterien der EU liegt bei 60 Prozent.

Jahrzehntelanges Duopol

Schlecht ist es auch um die spanischen Sozialisten bestellt. José Luis Rodríguez Zapatero blähte in zwei Regierungsperioden von 2004 bis 2011 die Bauwirtschaft auf, die zeitweise ein Fünftel der gesamten Wirtschaft betrug. Als die Immobilienblase platze, gerieten Millionen Haushalte und die Banken ins Wanken. Die Wähler bestraften die Sozialisten dafür und machten den Konservativen Mariano Rajoy zum Premier - auch mangels Alternativen. Wie Griechenland nach der Militärdiktatur wurde auch Spanien nach dem Fall des Franco-Regimes fast ständig von Sozialisten oder der konservativen PP regiert. Nun macht sich "Podemos" ("Wir können") auf, dieses Duopol zu brechen. Anders als Syriza entstand Podemos nicht aus einem Zusammenschluss von Parteien, sondern als Reaktion auf die Bürgerproteste gegen den Regierungskurs. Podemos’ Geburtshelfer und Ideengeber sind linke Universitätsmitarbeiter um den Politikwissenschaftler Pablo Iglesias.

© WZ

Syriza und Podemos haben bereits gezeigt, dass sie nicht nur in Umfragen stark sind: Bei der EU-Wahl im Mai vergangenen Jahres gewannen die Linken in Griechenland souverän vor den Konservativen. Und Podemos erreichte aus dem Stand acht Prozent. Beide Parteien arbeiten nun gemeinsam im EU-Parlament in der Fraktion der "Vereinten Europäischen Linken/Nordischen Grünen Linken". Diese ist von den sieben Zusammenschlüssen im Abgeordnetenhaus die drittkleinste Gruppierung. Sie stellt 52 Mandatare - um zwei mehr als die Grünen. Unter dem Vorsitz der Deutschen Gabriele Zimmer sind dort Mitglieder der Linken, aus der Zimmer stammt, ebenso zu finden wie Vertreter der griechischen "Koalition der Linksradikalen", der irischen Sinn Fein oder der portugiesischen Kommunisten. Es sind sozialistische und linke Parteien aus Deutschland, Zypern, Schweden, Frankreich, Spanien, Großbritannien, Irland, Griechenland, Italien, Portugal, den Niederlanden, Finnland und Dänemark.

Vergeblich sucht man jedoch in der linken Fraktion nach Parteien aus postkommunistischen Ländern. Lediglich die - unreformierten - tschechischen Kommunisten sind dabei, allerdings nur mit Beobachterstatus. Die klassischen Parteigrenzen verschwimmen in vielen mittelosteuropäischen Staaten, die Zuordnung zum linken oder rechten Parteienspektrum gestaltet sich schwierig. Polen ist dafür ein gutes Beispiel. Dort haben die zwei größten Fraktionen ihre Wurzeln in der Gewerkschaftsbewegung "Solidarnosc". Damit wären sie eher der sozialdemokratischen Richtung zuzurechnen. Doch hatte die "Solidarnosc" eine starke katholische Komponente - und die ist in der Weltanschauung der oppositionellen PiS (Recht und Gerechtigkeit) von Jaroslaw Kaczynski ebenso fest verankert. Aber auch große Teile der regierenden PO (Bürgerplattform), die lange Jahre von Donald Tusk geführt wurde, lassen sich als wertekonservativ bezeichnen.

Während jedoch das Programm der PO durchaus wirtschaftsliberale Elemente enthält - es gab sogar schon die Forderung nach Einführung einer Einheitssteuer -, will die PiS vor allem den Staat als Lenker der Ökonomie sehen. Daher wettert Kaczynski gegen Privatisierungen, die Arbeitsplätze kosten könnten, spricht sich für Mindestpensionen und gegen allzu viel unternehmerische Freiheit aus.

Ähnliche - wirtschaftlich linke - Einstellungen könnten auch vom Bündnis der Demokratischen Linken (SLD) erwartet werden, zu deren Vorgängern die sozialistische Polnische Vereinigte Arbeiterpartei gehört. Doch obwohl sich SLD für die Stärkung der Arbeitnehmerrechte und beispielsweise sicherere Verträge einsetzen will, hätte sie nichts gegen Steuersenkungen und Entbürokratisierung, die Unternehmen zu Gute kommen soll.

Dass die Linksdemokraten bei der jüngsten Parlamentswahl mühelos von einer anderen linken Gruppierung überholt wurden, hat aber weniger mit ökonomischen Überlegungen zu tun. Vielmehr waren es gesellschaftspolitische Motive, denen vor gut vier Jahren die Gruppierung des Unternehmers und Politikers Jan Palikot rund jede zehnte Wählerstimme verdankte. Die Bewegung Palikots, die auch unter seinem Namen firmierte, präsentierte sich als Protestpartei, die progressiv und antiklerikal sein wollte. Sie plädierte für eine strikte Trennung von Kirche und Staat, aber auch für eine Senkung der Staatsverschuldung. Bei der EU-Wahl trat sie als Bündnis "Europa Plus Deine Bewegung" betont proeuropäisch auf. Doch die Zustimmung der Wähler war da schon weit geringer: Die Partei scheiterte an der Fünf-Prozent-Hürde. Kein Mitglied schaffte es in die EU-Volksvertretung.

Protestfeuer erlischt

Politische Bewegungen können schnell wieder aus der Mode geraten, wenn kein effektiver Parteiapparat aufgebaut wird. Das zeigt sich besonders deutlich in Ungarn. Dort gerieten erst die etablierten Sozialisten in Misskredit. "Wir haben das Volk belogen", sagte der damalige sozialistische Premier Ferenc Gyurcsany 2010 gegenüber Genossen. Die Rede sickerte durch, und der gewiefte Populist Viktor Orban gewann die darauf folgende Wahl. 2014 wurde Orban mit absoluter Mehrheit wiedergewählt. Die Linke taumelt orientierungslos vor sich hin, lediglich von der rechtsradikalen Jobbik droht dem Premier Gefahr.

Wie unglücklich viele Ungarn dennoch mit Orbans "euroskeptischem Nationalismus" sind, den der Philosoph Gáspár Miklós Tamás ausmacht, zeigte der spontane Protest gegen die geplante "Internetsteuer" im vergangenen Herbst. Doch es gelang nicht, die hunderttausenden Demonstranten längerfristig gegen Orban zu mobilisieren. Wieder einmal. 2011 startete die Protestbewegung "Milla" (Eine Million für die ungarische Pressefreiheit) kometenhaft. Sie verglühte in einem Wahlbündnis, dem auch der partei- und apparatlose Ex-Premier Gordon Bajnai angehörte. "Együtt" kam bei der Parlamentswahl 2014 auf kümmerliche 3 von 199 Sitzen.