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Tigris-Brücke wird zur Todesfalle

Von Karim Sahib

Politik

+++ Bis zu 1000 Schiiten sterben qualvollen Tod bei Massenpanik. | Hauptsächlich Frauen und Kinder unter den Todesopfern. | Bagdad. (afp) Der Tag hatte schon unheilvoll begonnen. Am frühen Morgen feuerten Aufständische drei Granaten auf das Mausoleum des Imam Mussa al-Kasim und töteten sieben Pilger. Doch solche Angriffe gehören im Irak zum blutigen Alltag, und so wälzte sich der Strom der Pilger unverdrossen durch die Straßen Bagdads. Am Todestag des Imam hatten sich hunderttausende Pilger aufgemacht und marschierten in Richtung des Schreins im nördlichen Zentrum der irakischen Hauptstadt. Für bis zu 1000 von ihnen sollte es der eigene Todestag werden - vor allem Kinder, Frauen und Ältere starben qualvoll, als eine unkontrollierbare Massenpanik auf einer Brücke zum Mausoleum ausbrach.


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Es ist halb elf Uhr vormittags. Tausende Menschen schieben sich über die Al-Aimah-Brücke, die die Viertel Adhamiyah und Kasimiyah verbindet. Die einen kommen zurück vom heiligen Schrein, die anderen wollen dorthin. Sicherheitskräfte der Mahdi-Armee des radikalen Schiitenführers Moktada al-Sadr, Polizisten und Soldaten versuchen, die Massen unter Kontrolle zu halten.

Frauen im Nachteil

"Plötzlich schrie jemand, dass in der Menge Selbstmordattentäter mit Sprengstoffgürteln seien", berichtet ein Milizionär der Mahdi-Armee. Sofort hätten die Menschen begonnen, in alle Richtungen zu rennen. "Es war die Hölle", sagt der junge bärtige Mann. Wegen ihrer langen Gewänder hätten Frauen nicht richtig laufen können, noch dazu klammerten sich ihre Kinder an sie. In der Panik werden sie zu Tode getrampelt, berichtet Abdul Walid in einem nahegelegenen Krankenhaus, der die Tragödie mit einem gebrochenen Arm und zahlreichen Prellungen überlebte. Doch was mit seinem Sohn geschah, weiß der 54-Jährige nicht. "Er war auf meinen Schultern, ich weiß nicht, wo er jetzt ist. Alle drohten zu ersticken, und schließlich musste ich springen", sagt Walid wie betäubt.

Schon bevor die Panik ausbrach, sei es zu einem Stillstand auf der völlig überfüllten Brücke gekommen, berichtet Walid: "Es gab keinen Zentimeter Platz und die Leute konnten nicht mehr atmen." Als sich dann das Gerücht von den Selbstmordattentätern verbreitet, bricht die nackte Angst durch. Zu dem Zeitpunkt befindet sich Ahmed Jasim auf der Mitte der Brücke. "Ich habe versucht, die Kinder hochzuheben, aber ich wurde weggefegt", sagt der 28-Jährige, der mit gebrochenem Schulterbein und Arm davon kam. Er selber sei jung und kräftig, und habe es so geschafft, sich seinen Weg an die Seite zu bahnen und in den Tigris zu springen. "Fünf Minuten später und ich wäre tot gequetscht worden."

Doch so viel Glück wie Jasim hatten hunderte Pilger nicht: Weil sie nicht schwimmen können, ertrinken sie in den Fluten des Tigris. Andere werden gegen die Betonbarrieren auf der Brücke gedrückt, die dort zum Schutz gegen Selbstmordattentäter errichtet wurden. Blutflecken auf dem Stein zeugen später von ihrem qualvollen Tod.

Pilgerfahrt fortgesetzt

Die ersten Opfer der Massenpanik werden in die Gärten nahe des Mausoleums gebracht, berichtet der Sadr-Milizionär. Derweil rasen die unzähligen Krankenwagen zum völlig chaotischen Ort des Unglücks. Im Krankenhaus Numan im sunnitischen Viertel Adhamiyah liegen unzählige Leichen in den Fluren aufgereiht. Verzweifelte Menschen sind auf der Suche nach ihre Angehörigen oder Freunden. Handys klingeln ohne Unterlass. Draußen setzen währenddessen die Überlebenden ihre Pilgerfahrt fort. Es scheint, als geißelten sich die Männer mit nacktem Oberkörper noch härter als vorher.