In einem möglichem Folgeverfahren besteht Chance auf Freilassung.
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Kiew/Straßburg. Kaum ein Ereignis in der Ukraine hatte die EU im vergangenen Jahr so aufgerüttelt wie der Fall der ehemaligen Premierministerin Julia Timoschenko. Das harte Urteil von sieben Jahren Haft gegen die Ikone der Orangen Revolution, die Berichte über den Bandscheibenvorfall, den sich die Politikerin während ihrer Inhaftierung zugezogen hatte, lösten im Westen Empörung über die Politik von Präsident Wiktor Janukowitsch aus. Dem Rivalen Timoschenkos wird vorgeworfen, das Vorgehen der ukrainischen Justiz gegen die 51-Jährige und ihre Anhänger anzuleiten. Viele EU-Politiker hatten deshalb auch den geplanten Besuch von Fußballspielen während der Europameisterschaft in ukrainischen Stadien abgesagt.
Nun wird in dem Fall aber ein neues Kapitel geöffnet, denn erstmals verlagert sich der Prozess auf europäische Ebene: Am Dienstag wird sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in einer mündlichen Verhandlung erstmals mit jenen Beschwerden befassen, die Timoschenko vor einem Jahr, während ihrer Untersuchungshaft, eingebracht hat. Die heute 51-Jährige hatte damals darüber geklagt, aus politischen Gründen eingesperrt zu sein - und über die Haftbedingungen: Sie sei rund um die Uhr überwacht worden und habe keine ausreichende medizinische Versorgung bekommen. Die ukrainische Justiz, so Timoschenkos Anwalt Sergej Wlassenko, habe damit gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstoßen.
Allzu große Hoffnungen darf Timoschenko auf das europäische Gericht freilich nicht setzen - schließlich bezieht sich die Klage nur auf die Haftbedingungen, nicht auf das harte Urteil von sieben Jahren Haft und 137 Millionen Euro Schadenersatz, das im Oktober ausgesprochen worden war. "Wenn der EGMR Timoschenko Recht gibt, wird es ein paar Strafen für die an der Haft beteiligten Organe geben und vielleicht ein Schmerzensgeld - wie im Fall Juri Luzenko", verweist Kyryl Savin, Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Kiew, im Gespräch mit der "Wiener Zeitung" auf den ehemaligen Innenminister unter Timoschenko. Der hatte in einem ganz ähnlich gelagerten Fall Anfang Juli vor dem EGMR Recht bekommen. An seiner Inhaftierung änderte das Schmerzensgeld freilich nichts.
Janukowitsch hat vorgesorgt
Die hoffnungslose Situation könnte sich für Timoschenko wie auch für Luzenko allerdings dann ändern, wenn es ihnen gelingt, den eigentlichen Casus - die umstrittenen Urteile, die ihre Haft begründen - vor den Menschenrechtsgerichtshof zu bringen. Dafür müssen die Prozesse allerdings in der Ukraine durchjudiziert sein. Timoschenkos Berufungsverfahren steht derzeit vor dem Höchstgericht. "Wird das Urteil aufgehoben, muss der Prozess neu aufgerollt werden, wird es hingegen bestätigt, kann Timoschenko den Fall vor den EGMR bringen", sagt der Politologe Savin. Sollte das Straßburger Gericht dann Timoschenko Recht geben, wäre die Oppositionsführerin auf freiem Fuß.
Theoretisch zumindest - denn angesichts der ständigen Verzögerungen im Berufungsverfahren sowie der Prozesswelle, die in Kiew gegen Timoschenko losgetreten wurde, glaubt wohl niemand an eine realistische Chance für die geschickte Populistin, freizukommen. Ein zweiter Prozess wegen Steuerhinterziehung und Veruntreuung ist bereits am Laufen, auch wegen eines Mordes Mitte der 90-er Jahre wird gegen die ehemalige "Gasprinzessin" ermittelt. Bei den kommenden Parlamentswahlen Ende Oktober wird die Rivalin Janukowitschs nicht antreten können - und es sieht auch nicht so aus, dass der Mann aus dem Donbass, der sich die ukrainische Justiz mittels einer "Machtvertikale" gefügig gemacht hat, ausgerechnet Timoschenko, seine gefährlichste Gegnerin, vor den kommenden Präsidentenwahlen 2015 freilassen wird.
Für die Parlamentswahlen in zwei Monaten hat Janukowitsch bereits vorgesorgt - mit der Rückkehr zum "gemischten Wahlsystem". Nur noch die Hälfte der Abgeordneten werden demnach über Parteilisten nach dem Verhältniswahlrecht bestimmt. Der Rest per Mehrheitswahlrecht über Direktmandate - so sichern sich der Obrigkeit nahe stehende Oligarchen, die ihre Wahlkreise sponsern, ihre Sitze. Der Lohn: Die parlamentarische Immunität, die vor Strafverfolgung schützt.