Immer schon schlüpfen Fußballfans in die Rollen ihrer Helden, um deren unglaubliche Taten noch einmal nachzuspielen. Die Geschichte seiner Simulation ist beinahe so alt wie die des Fußballs selbst. Und der Klassiker der Nachahmung ist Tipp-Kick, das Fingerfußballspiel für den Küchentisch.
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Man rollt das Spielfeld aus, stellt die Tore auf und bewegt das gusseiserne Schussbein per Knopfdruck auf dem Kopf der Spielfigur. Auch wenn es von seiner Art eher an den freudlosen Rumpelfußball der Marke "Kick and Rush" erinnert, einer Variante, die der Effektivität und nicht den Grundsätzen der Ästhetik verpflichtet ist: Nämlich den vieleckigen und je zur Hälfte schwarz-weißen Ball weit nach vorne treten und hoffen, dass er die eigene Farbe anzeigt.
So wird auch während der Weltmeisterschaft in Südafrika wieder so mancher im heimischen Wohnzimmer stehen, um besondere Tore und Momente noch einmal nachzuspielen.
Eigens zur WM wurden dafür von Hand bemalte Tipp-Kick-Figuren in den aktuellen Trikots der 32 Nationalteams ins Angebot genommen. "Die Leute wollen die Begegnungen zu Hause nachempfinden, und zwar minutiös, Spielszene für Spielszene, da müssen auch die Farben stimmen", sagt Mathias Mieg. Der 47-Jährige muss es wissen, in seiner Firma im süddeutschen Villingen-Schwenningen wird das Spiel seit 1924 hergestellt. Weit über sechs Millionen Spiele sind seither produziert worden.
Tipp-Kick entstammt einer Zeit, als Fußballarenen noch Glückauf-Kampfbahn oder Stadion Rote Erde hießen und dem bis dahin bürgerlichen Sport durch den Zustrom aus der Arbeiterklasse der Durchbruch zum Massenphänomen gelang. Seinerzeit hatte Großvater Edwin Mieg das Patent von dem Stuttgarter Tüftler Carl Mayer gekauft, der es mit zwei Blechfiguren konzipiert hatte. Und seither hat sich kaum etwas verändert. Mathias Mieg: "Die Marke Tipp-Kick kann man nicht einfach so anders gestalten, sonst wird etwas Beliebiges daraus."
Denn gerade die Schlichtheit des Tipp-Kick lässt viel Raum für Magie und Mythen des Fußballs - auch heute noch. Denn Tipp-Kick ist Kult und vor allem eines: schon immer in Männerhand. Gespielt wird fast ausnahmslos von Vätern und ihren Söhnen. Und auch die Figuren aus Zink sind ausschließlich männlich - bislang. Eines der letzten großen Tabus wird schon bald tabu sein: Eine weibliche Spielfigur ist in Planung. "Eine Revolution", sagt Mathias Mieg. "Ebenso wie der Fußball ist Tipp-Kick sehr traditionell", erklärt er, warum es mit der weiblichen Variante so lange gedauert hat, "der Frauenfußball hat ja auch lange gebraucht, bis er die Akzeptanz bekam, die er heute hat."
Viele Jahre habe man sich schwer getan, "das Thema Frauenfußball anzupacken", wie Mieg es nennt. Auf der Suche nach einem Prototyp wurde auch viel über weibliche Anatomie diskutiert. Es gab Vorentwürfe mit zu groß geratener Oberweite oder mit Zopf. "Das sah aber nicht gut aus", so Mieg, "außerdem ist es ein Gegenstand, den ich die ganze Zeit in den Fingern habe. Die Figur sollte daher nicht zu weiblich sein, sonst wird es schnell sexistisch, was beim Tipp-Kick nichts verloren hat."
Im Vergleich zum männlichen Modell habe die Spielerin aber schon etwas mehr Brustumfang bekommen, beschreibt Mieg, "und im Hüftbereich musste sie so breit sein, da muss Platz für die Mechanik sein". Einen Lippenstift, so der Tipp-Kick-Produzent, trage sie allerdings nicht, auch wenn es auf den ersten Blick so wirkt. "Das ist nur der rote Strich für den Mund. Da die Figuren von Hand bemalt werden, geht das nicht genauer."
Die ersten Entwürfe der Tipp-Kickerin liegen schon vor, Ende des Jahres dann wird sie in einer Sonderauflage von 5000 Stück erhältlich sein. "Wenn sie gut läuft, nehmen wir sie fest ins Sortiment", verspricht Mathias Mieg, der pünktlich zur Frauen-WM 2011 in Deutschland auch Kickerinnen mit schwarzer Hautfarbe herausbringen möchte, "dann haben wir fast alle Möglichkeiten ausgeschöpft."
Denn die zahlreichen Tipp-Kick-Fans verlangen Vielfalt. Und das Spiel wird nicht nur im privaten Raum genutzt, allein in Deutschland gibt es etwa 90 Clubs, die Tipp-Kick im Verband organisiert als Sport betreiben, und auch in Österreich oder der Schweiz treffen sich regelmäßig Liebhaber und Könner zum Wettkampf. So leuchten die Augen vieler Kunden noch immer, wenn sie den Klassiker sehen, "und auch die Älteren, die damit groß geworden sind, freuen sich, dass es Tipp-Kick noch immer gibt".
Aber auch Mathias Mieg hat erkannt, dass sich sein Unternehmen Veränderungen und den Erfordernissen des globalen Marktes nicht verschließen kann. Seit zwei Jahren hat man die Vertriebsstrukturen in Frankreich und Italien ausgebaut, mit Erfolg. Bislang hatte Tipp-Kick sich eine Ausnahmestellung im deutschsprachigen Raum aufgebaut, jetzt erobert es auch den englischen, französischen und portugiesischen Markt. Selbst in England, dem Mutterland des großen Konkurrenten, dem Tischfußballspiel Subbuteo, "sind wir allmählich besser vertreten. Und auch Polen interessiert uns. Das ist ein Markt, der sehr im Kommen ist." Der größte und zugleich mutigste Schritt in der Firmengeschichte aber führte nach China: Dort werden seit 2006 nun auch Spiele produziert, die in den Exportmärkten in Südamerika und Asien verkauft werden. Im Moment wird eine größere Anzahl Tipp-Kick-Spiele für Chile gefertigt.
Für die WM in Südafrika musste das Personal nun auch in der deutschen Zentrale wieder um einige studentische Aushilfskräfte aufgestockt werden. Die Telefone klingeln pausenlos. Die Belastungsgrenze des kleinen Unternehmens - es gibt lediglich zwölf feste Mitarbeiter - ist erreicht.
Mit jedem Fußball-Großereignis steigt auch der Umsatz der Firma aus dem Schwarzwald. In Jahren ohne WM oder EM werden rund 60.000 Spiele verkauft. "In diesem Jahr sicher wieder weit über 100.000", glaubt Mathias Mieg, der im WM-Jahr 2006 die Rekordverkaufszahlen von über 200.000 Spielen bejubelte. "Früher haben wir die Figuren von Hausfrauen und Rentnern in Heimarbeit bemalen lassen. Nun fahren wir einmal die Woche nach Tunesien, wo die Figuren von Hand bepinselt werden", erklärt Mieg, "dadurch sind wir flexibler für große Stückzahlen geworden."
Ein Blick auf die Verkaufszahlen der Einzelfiguren, die bis kurz vor WM-Auftakt über den Ladentisch gegangen sind, überrascht allerdings: Es führt die Schweiz. Rund 11.000 Figuren im Trikot der Eidgenossen sind bereits verschickt worden. Auf den Plätzen: Deutschland (10.000), Südafrika (800) und Brasilien (600). Argentinien, Spanien, Frankreich und Italien folgen mit je 400 Kickern. Und die Sonderausgabe zur WM - "Tipp-Kick Afrika Edition", mit strahlender Sonne, Giraffe und Zebra auf dem Spielkarton - ist längst ausverkauft.
Eines aber bleibt gewiss: Figuren mit den Gesichtern der Superstars wird es in Zukunft nicht geben. Der Wunsch vieler Fußballfans scheiterte bislang an den Kosten, da es nur eine Gussform gibt: Die Mutter aller Tipp-Kick-Männer kostet rund 50.000 Euro. Schnell einmal eine mit dem Kopf von Kurzzeit-Günstlingen wie Lionel Messi, Cristiano Ronaldo oder Kaka zu gießen, ist nicht möglich. Auch wenn Fußballsimulationen auf dem Spielemarkt konkurrieren, die ganz neue Stufen der Realitätsnähe erreicht haben - Tipp-Kick hat nichts von seinem Zauber eingebüßt. Und so bleibt das Spiel, wie es seit über acht Jahrzehnten ist: Das Eckige muss ins Eckige und das Spiel wird auf dem Kopf entschieden.