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Todesmarsch durch die libysche Hölle

Von WZ-Korrespondent Roderick Agius

Europaarchiv

Flüchtlinge werden erpresst, beraubt und vergewaltigt. | Hunderte Afrikaner versuchen derzeit, das Mittelmeer zu queren. | Die meisten erleiden Schiffbruch und müssen zurück. | Valetta. Blessing ist gerettet. Das Mädchen, gerade einmal ein paar Monate alt, wurde mit einem Rettungshubschrauber der italienischen Küstenwache in ein Krankenhaus nach Malta gebracht. Mit ihr wurden dreizehn Männer, zwei Frauen und ein weiteres kleines Mädchen südlich von aus einem untergehenden Boot gerettet. Die Eltern und der Bruder Blessings ertranken.


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Es ist Hochsaison in den Gewässern von Malta. Wieder versuchen Tausende Flüchtlinge aus Afrika ihr Glück und setzen in kaum seetauglichen Gefährten nach Europa über. Unter ihnen lauert der Tod, vor ihnen ist das Heil, hinter ihnen die Hölle. Die Hölle, das ist Libyen. Wer aus Ländern wie Eritrea oder Kamerun nach Europa will, muss meist durch das Land des Langzeitdiktators Muammar Gaddafi. Die Schlepper müssen bereits im Voraus für die Reise in die Hauptstadt Tripolis bezahlt werden. Oft kehren sie bereits früher um.

Doch auch wenn sie die über tausend Kilometer lange Strecke fahren, können die Mercedes-Lastwagen oder die Toyota-Geländewagen stecken bleiben. An den Strecken liegen die Skelette derer, die es nicht geschafft haben.

Von Polizei erpresst und vergewaltigt

Die Sicherheitskräfte verdienen mit. Bei Monatslöhnen von 50 Euro greifen sie gern zu. Der "Umsatz" allein in der Sahara selbst wird auf 20 Millionen Euro im Jahr geschätzt. Wer dennoch den Sicherheitskräften in die Hände fällt und nicht genug Geld hat, sie zu bestechen, dem droht Lagerhaft. Über 20 Lager soll es geben. Selam aus Äthiopien hat eines davon erlebt, in der Provinz Kufrah im Südosten Libyens. "Rund 60 Männer, Frauen und Kinder haben auf dem Boden eines Saales geschlafen. Sie gaben uns Wasser und Brot. Vor meinen Augen wurde eine Frau vergewaltigt. Oft waren es vier oder fünf Polizisten, die eine Frau vergewaltigten." Viele der Frauen seien schwanger geworden. Am Ende der Haft mussten sie sich für 300 Dollar eine Nadel kaufen - für die Abtreibung. "Viele Frauen starben daran." Männer würden systematisch geschlagen, bei der Verhaftung wie im Lager selbst.

Wer es nach Tripolis schafft, ist noch immer nicht in Sicherheit. Kinderbanden betteln die Flüchtlinge an. Wer nicht zahlt, wird zusammengeschlagen, auf offener Straße. Immer wieder werden die Flüchtlinge auch von der Polizei kontrolliert; manche sterben unter ungeklärten Umständen in Polizeistationen. Doch an eine Rückkehr denkt hier niemand mehr. "Das Leben in Tripolis ist die Hölle", sagt Abraham aus Eritrea. "Aber nach Kufrah und nach der Wüste bleibt uns nichts anderes übrig als weiterzuziehen", fügt er hinzu. "Europa ist nur noch ein paar Kilometer entfernt, und das Leben hat keinen Wert mehr."

Die Boote starten oft in Zuwarah, einem Hafen ein paar Dutzend Kilometer westlich von Tripolis. Doch die Ankunft im Gelobten Land ist nicht garantiert. Tareke aus Eritrea ist mit 263 andern Flüchtlingen auf einem alten Schiff in der Nacht gestartet. Nach zehn Stunden versagten die Schiffsmotoren. Nach fünf Tagen kam ein Kriegsschiff unter maltesischer Flagge und schleppte das havarierte Schiff ab - in libysche Gewässer. Dort wurde es von einem libyschen Schiff in den nächstgelegenen Hafen gebracht. Am Pier schlugen Polizisten die Flüchtlinge. "Na, Ihr wolltet nach Italien?"

Deportation zurück nach Kufrah

Manchmal werden so Familien auseinander gerissen. Hurui aus Eritrea startete ebenfalls in Zuwarah, mit 64 anderen. Auch in seinem Schiff versagten die Motoren. Italienische Arbeiter einer Ölbohrplattform nahmen die Frauen und Kinder auf und kehrten nie zurück. Nach zwei Tagen kam ein Rettungshubschrauber und brachte die Männer auf die italienische Insel Lampedusa. Erst fünf Monate später, schon in Mailand, erfuhr Hurui, dass die Frauen und Kinder von der libyschen Küstenwache nach Zuwarah gebracht worden seien. Seine Frau und ihr kleines Kind seien wieder nach Kufrah deportiert worden.

Die wenige Monate alte Blessing - englisch für Segen - hat Glück. Das Mädchen hat in einem Heim der Ursulinerinnen auf Malta Aufnahme gefunden. "In der ersten Nacht hat sie ein bisschen geweint", sagt Schwester Stefania Caruana Aber alle hätten sich um sie gekümmert, und so sei sie eingeschlafen. "Es ist ein Segen, dass sie gerettet wurde."