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Todesopfer für "zynische" Hamas?

Von Michael Schmölzer

Politik

Nach mehr als 60 Toten stellt sich die Frage nach der Mitschuld der politischen Führung in Gaza.


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Gaza/Jerusalem/Wien. Am Tag danach war das volle Ausmaß der Tragödie offenbar: Mindestens 60 Tote haben die gewalttätigen Auseinandersetzungen an der Grenze zum Gazastreifen gefordert, bei allen handelt es sich um palästinensische Demonstranten. Mehr als 2200 Menschen wurden durch Schüsse und Tränengas verletzt. Laut Ärzten ist die Lage in den Spitälern ähnlich chaotisch wie im Krieg 2014, als israelische Kampfjets den Gazastreifen bombardierten.

Am Dienstag wurden die Toten in Gaza beerdigt, Palästinenserpräsident Mahmud Abbas sprach von einem "Massaker". Er rief drei Tage Staatstrauer aus, ein Generalstreik trat in Kraft. "Die haben meine 15-jährige Tochter erschossen, die ihnen nichts getan hat", klagte ein Trauernder. Neben einem 12-Jährigen kam ein acht Monate altes Baby ums Leben, nachdem es Tränengas in die Lungen bekommen hatte.

International reißt die Kritik am brutalen Vorgehen Israels nicht ab; immer öfter wird aber auch die Frage gestellt, welchen Anteil die radikalislamische Hamas an der Eskalation hatte. Für Deutschland einen maßgeblichen. Regierunssprecher Steffen Seibert sagte am Dienstag, die Hamas lege es gezielt "auf eine Eskalation der Gewalt an. Das ist zynisch."

Für 100 Dollar in den Tod

Israel streitet nicht ab, dass es Scharfschützen an der Grenze zum Gazastreifen postiert hat, die den Befehl haben, auf jeden zu schießen, der sich dem Zaun nähert. Auch am Mittwoch gab es mindestens einen Toten. In Israel beruft man sich auf das Recht der Selbstverteidigung und den Schutz der eigenen Grenze. Zudem macht man der Hamas den Vorwurf, die palästinensische Bevölkerung bedenkenlos zu verheizen. So hätten die Islamisten jeder Familie 100 Dollar für die Teilnahme an den Protesten gezahlt.

Das wäre eine Erklärung dafür, warum auch Minderjährige und Frauen zu Schaden kamen.

Dazu kommt, dass die Hamas das Angebot Ägyptens ausgeschlagen hat, im Gegenzug zu Lebensmittel- und Öllieferungen auf einen Aufruf zu Protesten zu verzichten.

Laut israelischer Armee hätten die Palästinenser Gewalt "in beispiellosem Ausmaß" eingesetzt. Terrorzellen mit Schusswaffen hätten versucht, israelische Soldaten anzugreifen. Es wären Brandflaschen, Sprengsätze und Lenkdrachen mit Brandsätzen eingesetzt worden. Und es wäre versucht worden, Anschläge auf israelische Ortschaften nahe der Gaza-Grenze zu verüben.

Bei den Schüssen auf Demonstranten handle es sich somit um "präventive Sicherheitsmaßnahmen", so die israelische Sicht der Dinge. Hier geht die Angst um, dass sich unter dem Deckmantel der Proteste "Terroristen" einschleichen könnten, um Israelis zu ermorden oder zu entführen.

Man erinnert sich in Israel gut an den Fall Gilad Schalit. Der Soldat war im Jahr 2006 durch die Hamas auf israelischem Territorium entführt und an einen unbekannten Ort im Gazastreifen gebracht worden. In Israel fand eine ungeheure Mobilisierung statt: Es komme nicht in Frage, auch nur einen einzigen Soldaten preiszugeben, hieß es. Fünf Jahre später wurde Shalit im Zuge eines Gefangenenaustausches freigelassen - ein Israeli gegen mehr als 1000 palästinensische Häftlinge. Schon zuvor, 1983, wurden mehr als 4000 palästinensische Gefangene für sechs entführte Soldaten entlassen. Israels Premier Benjamin Netanjahu will Derartiges offenbar um jeden Preis verhindern.

USA gegen Untersuchung

Unterdessen begingen die Palästinenser den Tag der "Nakba", der "großen Katastrophe" der Gründung Israels vor 70 Jahren. Einmal mehr wurden am Dienstag Autoreifen angezündet, um eine schwarze Rauchwand zu erzeugen. Während Israel die Staatsgründung feierte, gedachten die Palästinenser der Flucht hunderttausender Araber.

Denn mit der Proklamation eines eigenen Staates 1948 wurde Israel von mehreren arabischen Nachbarn gleichzeitig angegriffen. Bis heute geht es um das Recht der Geflüchteten, vor allem aber deren Nachkommen auf eine Rückkehr. Zahllose Palästinenser leben immer noch mehr oder weniger geduldet in Flüchtlingslagern - etwa Shatila im Libanon.

Der Kampf um das Rückkehrrecht für die damals Geflohenen ist weiterhin ein wichtiger Fixpunkt der palästinensischen Politik. Auch bei den jüngsten Unruhen wurde unter dem Motto "Großer Rückkehrmarsch" gegen Israel demonstriert. Israel spricht im Hinblick auf 1948 nicht von Vertreibung; die Palästinenser seien vor dem Krieg geflohen oder der Aufforderung der arabischen Armeen zur Flucht gefolgt.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan bezeichnete unterdessen die Gewalt vom Montag als "Massaker", das an friedlichen palästinensischen Demonstranten begangen worden sei. Der israelische Botschafter in Ankara wurde zur Ausreise aufgefordert. Netanjahu konterte: "Erdogan ist einer der größten Unterstützer der Hamas, daher gibt es keinen Zweifel, dass er sich gut auskennt mit Terror und Massakern."

Die UNO fordert eine unabhängige Untersuchung der "entsetzlichen" Vorkommnisse. Die USA lehnen eine solche Untersuchung der Ereignisse ab.