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Todesreigen dreht sich schneller

Von Michael Schmölzer

Politik

Massaker auf Maidan, Sonderpolizisten erhalten scharfe Munition.| EU-Außenminister versuchen zu vermitteln.


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Kiew/Moskau/Brüssel. Scharfschützen eröffnen das Feuer auf unbewaffnete Demonstranten, Menschen fallen getroffen zu Boden. Oppositionelle schießen zurück, Polizisten werden gefangen genommen und von Freischärlern in Tarnhosen abgeführt. Der Geheimdienst hat die Jagd auf Regierungsgegner eröffnet, die Rede ist von "Terroristen", deren Organisationen "liquidiert" werden müssten. Armee-Einheiten werden nach Kiew verlegt. Schließlich ist klar, dass auf dem Maidan ein Massaker stattgefunden hat. Die Rede ist von 60 Toten, CNN berichtet von 100 Gefallenen.

Das sind Szenen, die fatal an den Beginn eines Bürgerkriegs erinnern. Wie in Syrien, nur mit dem Unterschied, dass sich alles nur wenige Autostunden von Wien entfernt abspielt.

Die politischen Akteure auf beiden Seiten haben die Lage nicht mehr unter Kontrolle. Ein Waffenstillstand, der in der Nacht auf Donnerstag geschlossen wurde, hielt nur wenige Stunden. Die führenden Köpfe der Opposition, Vitali Klitschko, Arseni Jazenjuk und Oleg Tiagnibok, haben keinen Einfluss auf den gewaltbereiten Teil der Protestbewegung, das ist jetzt deutlich. Die Frage ist, ob auch Präsident Wiktor Janukowitsch teilweise die Kontrolle über die Sicherheitskräfte verloren hat.

Auf einem Video ist zu sehen, wie unbewaffnete Demonstranten, die sich mit Polizeischilden zu schützen versuchen, niedergeschossen werden. Gleichzeitig gibt es Berichte, wonach Polizisten aus Gebäuden unter Feuer genommen und verletzt werden - von Leuten, die ihr Handwerk offensichtlich verstehen. Das ukrainische Innenministerium hat die Sicherheitskräfte mit scharfer Munition ausgerüstet, "zur Selbstverteidigung", wie es heißt, und für den "Anti-Terror-Einsatz". So ist dafür gesorgt, dass sich der Todes-Reigen immer schneller dreht. Denn die radikalen Oppositionellen werden mit Gegengewalt antworten. Die militärisch gedrillten Kämpfer auf Seiten der Opposition haben am Donnerstag 67 Polizisten gefangen genommen. Dabei handle es sich um unbewaffnete Kräfte, heißt es aus dem Innenministerium. Bei der Befreiung der Sicherheitskräfte darf laut Befehl scharf geschossen werden.

Regierung und Opposition ergehen sich in wechselseitigen Schuldzuweisungen. Die Janukowitsch-Gegner nannten die neuerliche Gewalteskalation eine "geplante Provokation" der Staatsführung. Die Aktion richte sich gegen friedliche Demonstranten. Janukowitsch warf seinen Gegnern vor, den zuvor ausgehandelten Waffenstillstand gebrochen zu haben. Alles nur eine Finte, hieß es, die Opposition habe Zeit gewinnen wollen, um die Demonstranten mit Waffen zu versorgen.

Das Chaos ist perfekt, stellenweise zerfällt bereits das Regierungslager. Der Bürgermeister von Kiew, Makejenko, verließ die regierende "Partei der Regionen" und forderte die Parlamentsabgeordneten auf, sich als lebende Schutzschilde zwischen die Fronten zu stellen. "Keine Macht ist das Leben von Menschen wert, kein Oligarch ist gestorben, nicht ein Politiker", sagte er. Schon davor haben dutzende Abgeordnete der Janukowitsch-Partei für eine Machtbeteiligung der Opposition ausgesprochen. Es solle eine All-Parteien-Regierung gebildet und der Opposition der Posten des Parlamentspräsidenten angeboten werden. Eine Forderung, die dem Konzept der EU entspricht.

In Erwartung einer Flüchtlingswelle

Angesichts der sich drehenden Gewaltspirale bereiten sich die westlichen Nachbarländer der Ukraine auf eine Flüchtlingswelle vor. Rumänien, Polen, Ungarn und die Slowakei erklärten sich bereit, im Notfall Schutzsuchende aufzunehmen. Rumänien würde in einem ersten Schritt 3500 Menschen Asyl gewähren, Ungarn sorgt sich vor allem um die eigene Minderheit in der Ukraine. Laut Polens Premier Donald Tusk liegt "ein düsteres Szenario vor uns". Es seien bereits mehrere Verletzte aus der Ukraine in Polen aufgenommen worden.

Tusk weiß, wovon er spricht, er hat Informationen aus erster Hand. Sein Außenminister Radoslaw Sikorski war am Donnerstag am Ort des Geschehens. Er versuchte gemeinsam mit dem deutschen Außenminister Frank-Walter Steinmeier und Frankreichs Laurent Fabius im Machtkampf zu vermitteln, so wurde er Zeuge der Kämpfe. "Schwarzer Rauch, Explosionen und Schusswechsel rund um den Präsidentenpalast", vermeldete Sikorski via Twitter, die ukrainischen Regierungsvertreter seien extrem nervös.

Die drei EU-Außenminister waren intensiv bemüht, einen Ausweg zu finden, sie reisten nicht wie geplant nach Brüssel, um an den Verhandlungen über Sanktionen gegen Kiew teilzunehmen.

Russland verurteilt EU-Sanktionen

Russland hat die Sanktionen der EU scharf verurteilt. Es handle sich hier um glatte Erpressung, so Außenminister Sergej Lawrow. Derartige Maßnahmen würden die Lage zusätzlich verschärfen. Während die Olympischen Spiele in Sotschi für eine Imagepolitur nach außen und gute Stimmung nach innen sorgen sollten, bekommt es der autokratische Kreml-Herr Wladimir Putin jetzt mit der Angst zu tun. Viele Russen blicken insgeheim neidisch nach Kiew, sie wünschen sich einen ähnlichen Aufstand für ihr Land. Moskau hat deshalb immer wieder durchblicken lassen, dass man selbst den Aufstand auf dem Maidan längst ohne Rücksicht auf Verluste niedergeschlagen hätte. Unverhohlen führt Moskau Janukowitsch vor Augen, dass man ihn für zu schwach hält, in diesen dramatischen Stunden die richtigen Entscheidungen zu fällen. Er solle es nicht zulassen, von der Opposition als "Fußabstreifer" gebraucht zu werden, gebraucht Premier Dmitri Medwedew deutliche Worte. Moskau könne nur mit einer starken Führung in Kiew zusammenarbeiten, mit einer Autorität, die sich behaupten könne. Janukowitsch selbst hat zuletzt gedroht, "Berater" hätte ihm nahegelegt, die Proteste niederzuschlagen.

Parallel zur EU entsandte Wladimir Putin am Donnerstag einen Vermittler nach Kiew. Der scheidende Menschenrechtsbeauftragte Wladimir Lukin wird ab jetzt an fast allen Gesprächen zwischen Führung und Opposition in der Ex-Sowjetrepublik teilnehmen. Die Ukraine steht an der Kippe zum Bankrott, Russland nutzt das und hat die Überweisung von 2 Milliarden Dollar an die Bedingung geknüpft, dass Ruhe auf den Straßen einkehrt. Moskau will Kiew mit einem Kredit in der Höhe von 15 Milliarden Dollar aus der Klemme helfen, zudem wurden die Gas-Preise gesenkt. Das war die Belohnung dafür, dass Janukowitsch im November nicht wie geplant einen Assoziationsvertrag mit der EU unterzeichnet hat. Moskau selbst dementiert, das Nachbarland kaufen zu wollen, und spricht lieber von einem "Akt brüderlicher Nächstenliebe" gegenüber dem slawischen, orthodoxen Nachbarn. Viele in Moskau betrachten die Ukraine als Vorhof Russlands.

Es entsteht der Eindruck, dass Europa den dramatischen Ereignissen mehr oder weniger hilflos zusehen muss. Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel verurteilte die Eskalation der Gewalt in einem Telefongespräch mit Janukowitsch zwar auf das Schärfste und forderte den Präsidenten dringend auf, einzulenken. Auch der britische Außenminister William Hague zeigte sich angesichts der Gewalt "entsetzt". Die Gespräche des deutschen, französischen und polnischen Außenministers mit Janukowitsch führten aber zu keinem nennenswerten Ergebnis. Präsident Janukowitsch wurde ein Fahrplan vorgelegt, der eine Übergangsregierung, eine Verfassungsreform und Parlaments- und Präsidentenwahlen vorsieht. Das ähnelt den Forderungen, die die Opposition stellt und auf die der Präsident nicht eingehen will.

Die EU-Chefdiplomaten, die in Brüssel über Sanktionen gegen die Ukraine berieten, mussten derweil ohne das deutsch-französische Führungsduo auskommen. Schließlich konnte man sich auf Konto- und Visasperren einigen. Auch über ein Waffenembargo wird diskutiert.

Wirtschaftsminister Reinhold Mitterlehner hat sich dafür ausgesprochen, dass Konten ukrainischer Politiker in Österreich gesperrt werden. Er schloss dabei nicht aus, dass die Ukraine Österreich sanktioniert, etwa im Bereich Gas. Die geplanten Finanzsanktionen würden laut Mitterlehner österreichische Banken in jedem Fall treffen, weil Medienberichten zufolge "Oligarchen" aus dem Umfeld von Janukowitsch Geschäftsbeziehungen zu Österreich haben.

Sicher ist, dass die EU derzeit nicht in der Lage ist, entscheidenden Einfluss auf die Ereignisse in Kiew zu nehmen. Die Sanktionen sind ein wichtiges Signal, haben sich in anderen Konflikten - etwa im Fall Syrien - nicht als besonders wirksam erwiesen.