Zum Hauptinhalt springen

Tödliches Erbe des Krieges

Von Carsten Stormer

Politik

Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 20 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Samstag, 8 Uhr 30. Langsam, ganz langsam arbeitet sich Jamaladeem - der Leiter des EOD-Teams (Explosive Ordnance Disposal) von Handicap International Belgien - mit einem Bajonettmesser durch den ausgetrockneten, steinharten Wüstenboden. Nach und nach holt der 43-jährige ehemalige Mujaheddin-Kämpfer acht 12,5mm-Patronen-Fliegerabwehrmunition ans Tageslicht. Die Zünder sind noch intakt. Im Hintergrund kriecht einer seiner Mitarbeiter durch die Luke eines alten russischen T-52-Panzers. Ein Warnruf ertönt. Jamaladeem unterbricht sofort seine Arbeit. Im Inneren des Panzers befinden sich 29 Granten des Typs RPG-2 und eine RPG-7, die mit Leichtigkeit einen dieser Panzer durchschlagen hätten.

Die tödliche Munition rostet, seit dem unrühmlichen Abzug der Sowjet-Armee vor fünfzehn Jahren, in der afghanischen Wüste vor sich hin. Zwei bärtige, bis an Zähne bewaffnete Mujaheddin-Krieger stehen bereit, das Räumkommando, im Falle eines Überfalls von versprengten Taliban oder Banditen, zu verteidigen. Die Sicherheitslage ist durch die Nähe zur iranischen Grenze und den vielen Verstecken in den umliegenden Bergen heikel.

Die Munition wird auf der Ladefläche eines Pick-Ups verstaut. Wieder sind einige Quadratmeter afghanischen Bodens von der tödlichen Gefahr befreit worden. Doch Millionen von Blindgängern und Antipanzer- oder Antipersonenminen warten noch immer darauf, entdeckt zu werden. Es wird Jahrzehnte dauern, bis das Land am Hindukusch von der Hinterlassenschaft jahrzehntelanger Kriege befreit ist - falls dies überhaupt möglich ist.

Afghanistan ist nach wie vor von Landminen und Blindgängern, so genannten UXO's (Unexploded Ordnances), übersät. 90 Prozent liegen konzentriert in landwirtschaftlichen Gebieten, Bewässerungssystemen, Wohngebieten, Straßen und Weideland. Kurz: In Gebieten, in denen Menschen siedeln und leben.

"Es ist eine Tragödie für die Menschen", sagt Jan Bonzon, Leiter des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (ICRC) in der Provinzhauptstadt Herat. "Tausende wurden bisher getötet oder verwundet. Die Überlebenden verlieren durch die Verstümmelungen oftmals ihre Lebensgrundlage und werden dadurch permanent von anderen abhängig. Sie sind zu einem Leben in Armut und Elend verdammt."

Das Erbe des Krieges wirkt sich desaströs auf soziale Strukturen und die gesamte Wirtschaft des Landes aus, da weite Teile von produktiven und fruchtbaren Gegenden nicht zugänglich sind. In manchen Gebieten ist die Wirtschaft völlig zum Stillstand gekommen.

90 Prozent Zivilisten

In Afghanistan stirbt im Schnitt jeden Tag ein Mensch durch Landminen oder Blindgänger. Über 90 Prozent der Opfer sind Zivilisten. Dieser hohe Anteil beruht darauf, dass in den letzten beiden Jahren Kriegshandlungen und militärische Aktionen deutlich abgenommen haben. Und auch der unerwartet hohe Strom von ehemaligen Flüchtlingen, die aus den Grenzregionen der zentralasiatischen Staaten in ihre Heimat zurückkehren, lässt die Opferzahlen der Zivilbevölkerung weiter ansteigen. Viele Menschen überleben den Weg von den Flüchtlingslagern zurück in ihre Heimatdörfer nicht. "Die große Zahl der Flüchtlinge, aber auch die Abhängigkeit eines Großteils der afghanischen Bevölkerung von landwirtschaftlichen Flächen und Weideland lässt die Opferzahlen alarmierend in die Höhe schnellen", sagt der Schweizer Bonzon.

Risiko aus Armut

Gerade die Ärmsten sind am meisten von der Gefahr bedroht. Sei es beim Weiden der Schafe, beim Bestellen der Felder oder auf dem Schulweg. Unfälle mit tödlichem Ausgang oder Verwundete sind die unvermeidbare Konsequenz. Entweder Menschen arbeiten auf den Feldern und gehen somit ein unkalkulierbares Risiko ein oder sie lassen es sein und sehen dabei zu, wie ihre Familien langsam verhungern - ein Teufelskreis.

Ein weiteres, nicht zu unterschätzendes Problem ist das geringe Bildungsniveau und die daraus resultierende hohe Analphabetenrate, der geringe Lebensstandard und das risikobereite Handeln vieler Afghanen. Oftmals wird mit den hochexplosiven Materialien in einer unverantwortlichen Art und Weise umgegangen, die an Todessehnsucht grenzt, aber nichts anderes als Verzweiflung ist. Bauern und Hirten verlegen Blindgänger und Minen, ohne die geringste Kenntnis über die adäquate Handhabung. Schlimmer noch: Aus Geldmangel sind viele Afghanen gezwungen, Sprengstoff aus Minen und Artilleriegeschossen zu entfernen, um ihn hinterher auf den Basaren und Schwarzmärkten des Landes zu verkaufen. In den großen Städten wie Kabul, Herat und Kandahar hat sich hieraus inzwischen ein florierendes Geschäft entwickelt. Käufer gibt es genügend: Taliban, Warlords oder Kriminelle. Unfälle sind so unvermeidbar.

Aufklärung tut Not

Aufklärungsprogramme sollen helfen, die Bevölkerung über die Gefahren aufzuklären, die in der kargen afghanischen Landschaft und auf den ehemaligen Schlachtfeldern auf sie lauern. Über neunzig Prozent der zivilen Opfer waren nicht über die Gefahr informiert, in der sie sich befanden. "Das wichtigste ist, dass die Menschen nicht versuchen, den Sprengstoff zu entnehmen oder die Sprengsätze selbst zu entschärfen", meint Sebastian Fouquet, Leiter von Handicap International Belgien in der Hauptstadt Kabul. Wie notwendig dies ist, zeigt sich bei einem Aufklärungsprogramm in einer Grundschule nahe Herat. Auf die Frage, in welche Hand sie die Verantwortung über die gefundenen Minen oder Bomben geben würden, antwortete eines der Kinder: "In die rechte Hand!"

Nach Schätzungen von Experten wie dem Briten Zach Johnson, Leiter des EOD Teams von Handicap International in Herat, wird es noch mindestens sieben bis zehn Jahre dauern, bis die Gebiete mit der höchsten Prioritätsstufe von Sprengsätzen befreit sind. "Wir gehen bei der Schätzung davon aus, dass jährlich 12 bis 14 Quadratkilometer noch nicht bekannter Minenfelder entdeckt werden. Bis Afghanistan frei von Minen und Blindgängern ist, wird es aber eher noch Jahrzehnte dauern", meint der ehemalige Offizier der britischen Marine. Im gleichen Augenblick lässt ein ohrenbetäubender Knall die Fenster seines Büros erzittern. Sechs Tonnen Kriegsmaterial wurden gerade zur Explosion gebracht - das Ergebnis weniger Tage Arbeit. Die Räumkommandos suchen systematisch jedes Dorf ab oder gehen den Meldungen von Dorfbewohnern nach, die eine Rakete in ihrem Vorgarten oder eine Mine in ihrem Feld finden.

Samstag, 11 Uhr. In dem kleinen Dorf Thirpul nahe der iranischen Grenze erzählen zwei bärtige, mit Kalaschnikows bewaffnete Dorfbewohner Einsatzleiter Jamaladeem von weiteren Mörsern, die in den Belüftungsschächten verfallener Ruinen versteckt liegen sollen. Jamaladeem vertraut den Männern. Der ehemalige Mudschaheddin mit dem schwarzen Bart und den weichen braunen Augen ist selbst vom Krieg gezeichnet. Bei einer Minenexplosion verlor er seinen rechten Zeigefinger. Eine lange Narbe am Hals stammt von der Kugel eines kommunistischen Soldaten, der heute in einem anderen Sprengkommando Dienst tut und mittlerweile sein Freund ist. Durch seine Verwundungen, die er im Kampf für die Befreiung Afghanistans erlitt, erntet er den Respekt der ländlichen Bevölkerung und seiner ehemaligen Kampfgefährten.

Einst selbst Minen gelegt

Die beiden bewaffneten Männer führen Jamaladeen und seine Truppe zu einem verfallenen Haus. In den Belüftungsschächten haben die flüchtenden Taliban tatsächlich Mörsergranaten versteckt. Diese aus den engen Schächten zu ziehen ist lebensgefährlich. Sollten die Zünder intakt sein, könnten sie jederzeit explodieren. Noch vier Granaten - russischer, iranischer und chinesischer Herkunft - ziehen die Männer aus den Schächten hervor. Die Liste der Länder, die Afghanistan mit Waffen versorgt haben ist lang.

Samstag, 14 Uhr. Jamaladeems Arbeitstag geht langsam dem Ende zu. Seit den frühen Morgenstunden riskieren er und sein Team das Leben, um ihr Land von den Minen zu befreien, die sie einst selbst gelegt haben, um ihr Land zu schützen - Ironie des Schicksals. Auf der Ladefläche eines Lastwagens befindet sich die Munition, die im Laufe des Tages gefunden wurde. Im Schatten einer jahrhundertealten Steinbrücke wird die tödliche Fracht säuberlich in einem Erdloch aufgeschichtet und mit schwarzem, schmierigem Plastiksprengstoff versehen. Die Explosion reißt ein metertiefes Loch in den Boden. Metallsplitter, Steine und Erdreich fliegen durch die Luft. Jamaladeems Arbeitstag ist zu Ende, das Leiden der afghanischen Bevölkerung noch lange nicht.