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Tokio fällt Urteil über Atomkraft

Von WZ-Korrespondentin Sonja Blaschke

Politik

Regierung versucht, heikles Thema AKW unter den Tisch zu kehren.


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Tokio. Ein pinkfarbener Kleinbus, wie eine Lokomotive im Miniformat, steht vor einem Tokioter Bahnhof. Bunte Luftballons daran wehen im Wind. Ein Mann steht davor, verbeugt sich unentwegt und grüßt die Vorbeihastenden. "Machen Sie Gebrauch von Ihrem wichtigen Wahlrecht!", fordert eine Frauenstimme vom Band auf. An der Seite des Vehikels steht groß "9. Februar": Denn am Sonntag können 10,82 Millionen Wahlberechtigte bestimmen, welcher von 16 Kandidaten bald Japans Hauptstadt Tokio führen soll. Seit dem Rücktritt von Naoki Inose im Dezember infolge eines Skandals um Wahlkampfspenden ist der Posten unbesetzt. Inose war zuvor dafür gefeiert worden, die Olympischen Spiele 2020 nach Tokio geholt zu haben.

Der Gouverneur von Tokio gilt in Japan vielen als der zweitmächtigste Mann im Staat. Er regiert über die bevölkerungsreichste Präfektur und hat dafür ein Budget, das dem Staatshaushalt von Indonesien entspricht. Die Wahl ist mehr als nur eine Art Bürgermeisterwahl im großen Stil: Sie ist Gradmesser für die Stimmung im Land. Ihr Ergebnis fällt auch ein Urteil über die Regierung von Premierminister Shinzo Abe.

Momentan liegt der von Abes Liberaldemokratischer Partei (LDP) unterstützte Kandidat Yoichi Masuzoe vorne. Ein Sieg des früheren Gesundheits-, Arbeits- und Sozialministers würde das Machtmonopol Abes weiter stärken. Als Gouverneur kann Masuzoe zum Beispiel Einfluss auf die Bildungspolitik in Tokio nehmen und bestimmen, was Schulkinder dort lernen. Er gilt als eloquent, aber nicht unumstritten. Derzeit sorgen frühere frauenfeindliche Äußerungen Masuzoes über Politikerinnen ("Frauen verhalten sich nicht normal, wenn sie ihre Periode haben") für Unmut.

Doch in der Männergesellschaft Japan dürfte das seine Erfolgsaussichten kaum mindern. Schwerer wiegt für die Allgemeinheit, dass der 65-Jährige Erfahrung im Gesundheitswesen mitbringt. Denn die Sozial- und Gesundheitsfürsorge gehört zu den Top-Themen bei dieser Wahl, gefolgt von Wirtschaft und Katastrophenvorsorge, zumindest laut klassischen Telefonumfragen.

Auf Twitter hingegen dominiere das Thema Atomkraft, fand eine Datenanalysefirma heraus. Zwei weitere Kandidaten, die zusammen auf etwa so viele Stimmen wie Masuzoe kommen, möchten Japan - ausgehend von Tokio - in ein atomkraftfreies Zeitalter führen. "Wenn wir jetzt nicht die grundlegende Entscheidung treffen, die Atomkraftwerke komplett abzuschalten, dann wird das auch in 40, 50 Jahren nicht passiert sein", sagte der Kandidat Morihiro Hosokawa kürzlich vor Journalisten. Er ist zumindest für die älteren Japaner ein alter Bekannter: Hosokawa regierte das Land als 79. Premierminister von August 1993 bis April 1994. Zum ersten Mal seit 1955 hatte es damals seine Koalitionsregierung geschafft, das Machtmonopol der LDP zu brechen. Sein prominentester Unterstützer dieses Mal, neben der demokratischen Partei (DPJ), ist Ex-Premier Junichiro Koizumi. Jener ist inzwischen vom Befürworter zum AKW-Gegner konvertiert. Als Hosokawas größter Nachteil wird sein Alter gesehen: Er ist 76 Jahre alt und wirkt durch seine ruhige Art wenig durchsetzungsfähig.

Kein Zusammenschluss

Der zweite Kandidat aus dem Oppositionslager, der Chancen hat, ist Kenji Utsunomiya. Er war früher der Vorsitzende der japanischen Anwaltskammer. Der 67-Jährige wird von den Kommunisten und den Sozialdemokraten unterstützt. Er vereinigt die Stimmen der Mitte-Links-, aber auch einiger Wechselwähler auf sich. Anti-AKW-Gruppen fordern derzeit einen Kandidaten zum Verzicht auf, um die Wählerschaft nicht zu spalten. Aus Utsunomiyas Umfeld hätten ihn solche Anfragen erreicht, sagte Hosokawa, doch ein Zusammenschluss sei aus verschiedenen Gründen nicht denkbar.

Im Vorfeld hatte die LDP-Regierung versucht, das Thema Atomkraft als nicht relevant für die Wahl hinzustellen. Sie soll sogar Japans große Medienhäuser gebeten haben, das Thema bis dahin klein zu halten. Deswegen kündigte ein langjähriger Kommentator beim halbstaatlichen Fernsehsender NHK, weil ihm gesagt wurde, er solle bis zu den Wahlen nicht zur Atomkraftfrage sprechen. NHK steht zurzeit unter Beschuss, die Neutralität des Senders ist in Zweifel. Denn der neue NHK-Chef Katsuto Momii erklärte kürzlich in seiner Antrittsrede: "Wenn die Regierung rechts sagt, dann können wir nicht links sagen." Neben Masuzoe ist ein weiterer Kandidat aus dem erzkonservativen, sogar rechten Lager im Rennen. Der pensionierte General der japanischen Selbstverteidigungsstreitkräfte, Toshio Tamogami, möchte deren Rolle stärken und ähnlich wie Abe und Masuzoe die Schulbücher zugunsten von Erziehung ändern, die den Patriotismus fördert. Er spekuliert damit - durchaus berechtigt - auf Stimmen von LDP-Wählern. Zu seinen Unterstützern gehört der langjährige Ex-Gouverneur von Tokio, der nationalistische Shintaro Ishihara. Jener hatte durch angebliche Kaufabsichten einer umstrittenen Inselgruppe die anhaltende diplomatische Krise mit China ausgelöst.