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Totale Erinnerung - ein Irrglaube

Von Alexandra Grass

Wissen
Datenspeicherung kann auf den verschiedensten Wegen erfolgen.
© ars electronica

Das Festival Ars Electronica 2013 widmet sich heuer dem Gedächtnis.


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Wien. Bei "Total Recall - The Evolution of Memory" handelt es sich nicht um eine Fortsetzung des bekannten Films mit Arnold Schwarzenegger. Es ist das Festival "Ars Electronica" in Linz, das sich heuer dem Thema Erinnern verschrieben hat.

"Ein Mensch, der ohne die Erinnerung an sich selbst aufwacht, hat keine Identität und kein Bewusstsein. Er ist im negativen Sinn wie neu geboren", betont Jürgen Sandkühler vom Zentrum für Hirnforschung der Medizinuniversität Wien. Die Erinnerung ist damit die Basis für unsere Identität, unser Selbstbewusstsein und unsere Persönlichkeit.

Im permanenten Wandel

Die menschliche Erinnerung ist allerdings nicht so starr wie eine Datenbank, sondern befindet sich im permanenten Wandel. Sie ist damit jedes Mal wieder ein in Echtzeit entstehendes Konstrukt unseres Gehirns. Daher sei "nichts so unzuverlässig wie die Erinnerung an sein eigenes Leben", stellt der Wissenschafter fest. Denn nicht nur, dass Menschen ihre Vergangenheit aufgrund veränderter Rahmenbedingungen immer wieder neu bewerten, so manipulieren sie auch. Etwa um ihre Geschichte erträglicher oder prächtiger erscheinen zu lassen.

Von Ronald Reagan etwa weiß man, dass er in seinem Wahlkampf im Jahr 1980 immer wieder mit großer Überzeugung ein Kriegserlebnis geschildert hat, das aber, obwohl er selbst anscheinend fest daran glaubte, nur die Handlung eines Hollywoodfilms war, die er für sich verinnerlicht und zu seiner Erinnerung gemacht hatte.

Vor eine schwierige Frage stellt die Wissenschaft nach wie vor, wie das Gehirn Erinnerungen abruft. Man wisse, dass bestimmte Medikamente oder Situationen verhindern, dass Erinnerungen vom Kurzzeit- in das Langzeitgedächtnis übertragen werden. Aber wie man sie dort dann wiederfindet, sei noch weitgehend ungeklärt, so Sandkühler.

Eine Möglichkeit, auf die hunderttausenden Informationen im menschlichen Gehirn zugreifen zu können, sieht er in Assoziationen. Stellt man sich etwa eine bestimmte Person vor, rufen bestimmte Erregungsmuster im Gehirn etwa Namen, Beziehung und Biografie in Erinnerung.

Oder man stellt sich Gerüche aus der Kindheit vor, das Elternhaus oder die Stadt, in der man aufgewachsen ist. Viele solcher Erinnerungen sind mit sogenannten kontextsensitiven Stimuli verknüpft. Das Gehirn ist damit wesentlich ausgereifter als ein Computer, der nur stur Daten abspeichern kann und dann die gesamte Datenbank durchsuchen muss, um etwas Bestimmtes wiederzufinden. "Diesen verschwenderischen Luxus, den sich Computerdatenbanken leisten, umgeht das Gehirn mit der eleganten kontextsensitiven Erinnerung", betont Sandkühler.

Das perfekte Gedächtnis

Das wohl perfekteste Gedächtnis der Natur ist die DNA, mit der sie sich nicht nur selbst repliziert, sondern auch weiterentwickelt. Das menschliche Genom repräsentiert eine Datenmenge von 800 Megabyte. Im Vergleich dazu wird geschätzt, dass der Mensch bis heute Daten in einer Größenordnung von insgesamt 2,7 Zettabyte (jene Zahl mit 21 Nullen im Anhang) gespeichert hat, wobei weniger als ein Prozent davon nicht digital sind. Mit den DIN-A4-Seiten, die man für den Ausdruck dieser Daten benötigen würde, könnte man unsere Erde 500 Mal einwickeln.

Ein Gehirn würde eine solche Datenflut wohl kaum überfordern, denn es behält nur jene Teile, die für den jeweiligen Menschen wirklich von Bedeutung sind. Das neuronale Netzwerk mistet quasi aus und trennt die Streu vom Weizen, indem es in den Nervenzellen des Gehirns Erlerntes entweder weiterträgt oder deren Übertragung hemmt. Je intensiver eine bestimmte Nervenverbindung genutzt wird, umso eher bildet sich eine Art Gedächtnisspur im Gehirn. Außerdem hilft uns das Erinnern, Situationen wiedererkennen, sich in der Umwelt zurechtfinden und Bewertungen vornehmen zu können, erklärt der Gehirnforscher.

Noch bis 9. September stehen die Neurowissenschaften im Fokus der Ars Electronica - dem Festival für Kunst, Technologie und Gesellschaft in Linz. Untersucht wird auch der Aufwand der Menschen beim Versuch, ihrer Vergangenheit auf die Spur zu kommen und jener zur Überlieferung ihres Vermächtnisses. Auch befasst sich das Festival mit den künftigen Techniken der Datenspeicherung.