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Tote Sprachen und Wiedergänger

Von Albert Bock

Wissen
In Cornwall wird das Kornische zwar gefördert, dennoch dominiert das Englische - wie dieses zweisprachige Straßenschild in Falmouth (kornisch: Aberfal) klar beweist. Foto: Julia Weiss

Mehr als die Hälfte aller Sprachen ist vom Aussterben bedroht. | Manchmal bewirken diverse Umstände ein Leben nach dem Tod. | Wien. Cornwall, Herbst 2010. Ein Bus voller österreichischer Pensionisten auf Rosamunde-Pilcher-Tour überquert von Plymouth kommend den Fluss Tamar. Am westlichen Ufer werden die Reisenden von einem großen Schild begrüßt, das in großen Lettern verkündet "Welcome to Cornwall - Kernow agas dynnergh". Rätselraten unter dem Teil der Businsassen, dem die Aufschrift aufgefallen ist. Was für eine Sprache soll das sein? Sind wir nicht in England? Für die Reisenden ist das vermutlich der erste Kontakt mit der kornischen Sprache. Es wird nicht ihr letzter bleiben - die Sichtbarkeit der Sprache nimmt in der ganzen Region zu. Kein geringer Erfolg für ein Idiom, das ziemlich genau hundert Jahre lang tot war.


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Seit die Unesco vor einigen Jahren Alarm geschlagen hat, lesen wir alle paar Monate Artikel aus identischem Guss in den Printmedien: Etwa 6000 Sprachen werden heute noch im Alltag verwendet, steht da. Vermutlich mehr als die Hälfte wird unser Jahrhundert nicht überleben.

Brotlose Sprachen sterben

Diese Schätzungen stammen vom amerikanischen Sprachwissenschafter Michael E. Krauss und sind eher optimistisch. Etwa ein Viertel der heute noch verwendeten Sprachen werden von Kindern nicht mehr gesprochen - ihr Aussterben ist also nur noch eine Frage der Zeit.

So weit, so bekannt. Aber warum stehen wir einem solchen kulturellen Massensterben gegenüber? Die Gründe sind komplex, den meisten Fällen ist aber eines gemeinsam: ökonomischer Druck. Eltern wollen, dass ihre Kinder es zu Wohlstand bringen. Signalisiert die Gesellschaft, dass das nur über eine bestimmte Sprache möglich ist, dann ist die Entscheidung der meisten klar. Was kein Geld bringt, wird aussortiert. Diese Verkürzung darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Auswahl der Sprachen, die Geld bringen dürfen, willkürlich politisch vorgenommen wird. Wer keine Lobby hat, dessen Kultur wird durch diesen Prozess zerstört. Sprachtod ist immer die Folge eines Machtungleichgewichts und damit von struktureller Gewalt. Aber welche Faktoren können eine Sprache wiederbeleben?

Wir kennen nur sehr wenige Beispiele für Sprachen, die erfolgreich wiederbelebt worden sind und heute wieder im Alltag verwendet werden; beispielsweise Maori auf Neuseeland oder Manx auf der Isle of Man. Den größten Erfolg kann hier das Hebräische für sich verbuchen. Heute hat es alleine in Israel mehr als fünf Millionen Muttersprachler.

Diese Erfolgsgeschichte kommt ihrerseits freilich nicht ohne Gewalt aus. Waren die Anfänge der Wiederbelebung des Hebräischen ab 1882 noch freiwillig, so wurde bereits wenige Jahrzehnte später gezielt Druck auf Einwanderer ausgeübt, die die Sprache nicht im Alltag verwendeten. Theatervorführungen wurden gesprengt, Menschen auf der Straße aufgefordert, sich nur des Hebräischen zu bedienen. Diese Maßnahmen richteten sich besonders gegen das Jiddische, das daher im heutigen Israel vor dem Aussterben steht. In der britischen Mandatszeit war das Hebräische bereits offiziell anerkannt, und mit der Gründung Israels wurde es 1948 zur ersten Staatssprache.

Das Kornische hat es ohne politische Unterstützung geschafft, und damit auch ohne Gewaltanwendung. Die Erfolge bewegen sich daher auch in viel kleinerem Maßstab. Die keltische Sprache Cornwalls war nach einer Phase der literarischen Blüte im Spätmittelalter vor allem durch die Reformation unter Druck geraten. Eine Abwärtsspirale setzte ein. Im Lauf des 18. Jahrhunderts beschlossen schließlich die letzten Familien im Westen der Region, mit ihren Kindern nur noch Englisch zu sprechen. Die letzte namentlich bekannte Muttersprachlerin, Dolly Pentreath, starb 1777, und die letzten Sprecher starben wohl bald darauf. Erst 1904 veröffentlichte der Spätromantiker Henry Jenner ein Handbuch des Kornischen, in dem er seine Landsleute aufrief, sich die Sprache ihres Landes wieder anzueignen. "Why should Cornishmen learn Cornish?", fragte er im Vorwort. "There is no money in it, it serves no practical purpose. (. . .) Because they are Cornish". (Weshalb sollten die Einwohner Cornwalls Kornisch lernen? Es bringt kein Geld, es dient keinem praktischen Zweck. (. . .) Weil sie Einwohner Cornwalls sind.)

Dementsprechend zaghaft waren die Anfänge. Zunächst wurde das Kornische nur zeremoniell gebraucht, doch ab etwa 1960 wendete sich das Blatt. Erstmals brachten einzelne Eltern ihren Kindern wieder Kornisch als Muttersprache bei. Als im Jahr 2002 die britische Regierung die Sprache schließlich anerkannte, zählte man 250 aktive Sprecher - unter einigen tausend Personen, die sie gelernt hatten. Die zugesicherte Unterstützung wurde zunächst durch einen internen Rechtschreibstreit blockiert. Dabei zeigte sich, wie vielschichtig heute die Motive sind, Kornisch zu lernen. Für manche handelt es sich, so wie für Jenner, um einen Wert an sich und um einen unverzichtbaren Teil Cornwalls. Für andere ist es ein Vehikel, den ehemals blühenden kulturellen Beziehungen zur Bretagne und zu Wales erneut Leben einzuhauchen. Wieder andere wollen, dass es statt des BBC-Englischen den Platz des aussterbenden lokalen englischen Dialekts übernimmt. Jede dieser Gruppen hat eigene Vorstellungen davon, wie sich das Kornische, auch geschrieben, "anfühlen" soll.

Schulfach Kornisch

Seit Ende 2007 eine Einigung erreicht und eine gemeinsame Standardrechtschreibung eingeführt worden ist, scheinen die Zeichen endgültig auf Wachstum zu stehen. Die Einführung des Kornischen als freiwilliges Schulfach wird vorbereitet, und mehr als ein Viertel der Schüler in der Region hat bereits Interesse signalisiert. Neue Straßenschilder sind prinzipiell zweisprachig.

Wenn die Rosamunde-Pilcher-Rundreise vorbei ist und die Pensionisten heimkehren, werden die meisten von ihnen das kleine Wunder, dessen Zeugen sie geworden sind, wohl schnell vergessen. Es kann aber auch sein, dass sie in der Wiener U-Bahn auf ein Werbeposter für Sprachkurse in der Volkshochschule Brigittenau stoßen, das sie an ihre Tour erinnert. In dessen Mitte steht deutlich "Dynnargh dhen. . . Volkshochschule" - "Willkommen in der . . . Volkshochschule". Auf Kornisch.

Albert Bock ist Sprachwissenschafter und Keltologe an der Universität Wien. Daneben arbeitet er als Berater für das Cornish Language Partnership in Truro.

Wissen: Sterbende und lebende Sprachen

Vom Aussterben bedrohte Sprachen sind unter anderem:

 Istrorumänisch (1500 Sprecher in Istrien)

 Ainu (100 Sprecher auf Hokkaido)

 Unserdeutsch (100 Sprecher in Papua-Neuguinea; Unserdeutsch ist die einzige deutschbasierte Kreolsprache)

 Adihe (95 Sprecher in Sibirien)

 Livisch (15 Sprecher in Kurland)

 Kurisch (8 Sprecher in Deutschland)

 Arikapú (6 Sprecher in der Amazonasregion)

Die fünf Länder mit den meisten gesprochenen Sprachen sind Papua Neuguinea (850 Sprachen), Indonesien (670 Sprachen), Nigeria (470 Sprachen), Indien (380 Sprachen) und Kamerun (270 Sprachen).

Die fünf als Muttersprache meistgesprochenen Sprachen sind:

 Mandarin-Chinesisch (885 Millionen Sprecher in China)

 Spanisch (332 Millionen Sprecher in Spanien und Südamerika)

 Englisch (322 Millionen Sprecher in Großbritannien, USA und Australien)

 Bengali (189 Millionen Sprecher in Bangladesh und Indien)

 Hindi (182 Millionen Sprecher in Indien)

Deutsch wird von rund 98 Millionen Menschen gesprochen und liegt an 10. Stelle der meistgesprochenen Sprachen.