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Totenstille

Von WZ-Korrespondent Julius Müller-Meiningen

Politik

Europa hat sich an die Tragödien im Mittelmeer gewöhnt.


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Rom. Fernsehkameras gibt es hier auf dem offenen Meer nicht. Auch keine Mikrofone und kein Blitzlicht. Nur eine große erschütternde Stille. Totenstille. Insgesamt 18 Schiffe, darunter Frachter, Fischerboote, die Küstenwache, Finanzpolizei und Marine sind in der Nähe der Unglücksstelle, 70 Seemeilen vor der libyschen Küste. Der Himmel ist klar, der Seegang ruhig. Außer ein paar Schlieren von Dieselöl in den Wellen ist am Morgen nach der Tragödie nichts mehr zu sehen. So hat es Vincenzo Bonomo einem italienischen Reporter erzählt.

Bonomo, das heißt so viel wie guter Mann. Und wenn man so will, ist es gut, dass der Kapitän des sizilianischen Fischkutters "Francesco Padre" das Grauen mit eigenen Augen gesehen hat. Er hat Holzstücke im Wasser gesehen, Schwimmwesten, Schuhe, ein Heft und einen Rucksack. Und dann hat er noch den leblosen Buben gesehen, vielleicht zehn Jahre alt, dessen Gesicht in einer Dieselöl-Pfütze schwamm und hinunter auf den Meeresgrund gerichtet war. Er wolle gar keinen Überlebenden mehr finden, die Suche sei ohnehin aussichtslos, berichtet Bonomo erschüttert. Nur einen einzigen Körper finden und diesem eine würdige Bestattung möglich machen. "Dann könnte ich vielleicht ein bisschen besser schlafen."

Wir schlafen alle ziemlich gut. Wir schlagen am Morgen die Zeitung auf oder schalten den Fernseher ein und dann beginnt dieses seltsame Spiel mit den Zahlen. Vor allem Journalisten geht es so: Drei Tote im Mittelmeer, vielleicht eine Meldung? 70 Tote, ein kleineres Stück. Ab 300 handelt es sich um eine Katastrophe ungeahnten Ausmaßes. Aber selbst, wenn wie im Oktober vor zwei Jahren 366 Menschen unmittelbar vor der Insel Lampedusa ertrinken, der Papst daraufhin in einer viel beachteten Reise die Insel besucht und die "Globalisierung der Gleichgültigkeit" anprangert, Europa dann ein paar Tage irritiert ist und verspricht, jetzt wirklich aktiv zu werden, geht alles doch bald wieder seinen gewohnten Weg.

Am Wochenende hieß es erst, 700 Menschen seien bei einem Schiffsunglück vor der Küste Libyens ertrunken. Dann behauptete einer der 28 Überlebenden, es seien 950 Menschen an Bord gewesen. 200 Frauen und 40 bis 50 Kinder. Ein neuer trauriger Superlativ. Am Montag gar die Nachricht, auch vor Rhodos sei ein Flüchtlingsboot mit 200 Menschen auf Grund gelaufen. Im Internet findet man Bilder von Menschen, die sich an Planken festhalten, um nicht unterzugehen.

Genozid mit vielen Komplizen

Die Internationale Organisation für Migration meldete gestern insgesamt drei Notrufe von Flüchtlingsbooten in Seenot. Das Massensterben vor unserer Haustüre ist alltäglich geworden. "Im Mittelmeer trägt sich ein Völkermord zu", hat Joseph Muscat, der Premierminister von Malta, in diesen Tagen gesagt. "Und wir alle drohen uns an ihn zu gewöhnen."

Wir sind persönlich nicht verantwortlich dafür, dass Armut und Krieg in Afrika und im Nahen Osten herrschen. Auch nicht dafür, dass Schlepper hunderte von Menschen auf klapprige Fischkutter pferchen und sie dafür auch noch bezahlen lassen. Dass im vergangenen Jahr auf diese Weise 170. 000 Menschenüber das Mittelmeer nach Italien und damit in die EU kamen und 3500 von ihnen starben. Dieses Jahr sind es schon 1600 Tote. Eine Million Menschen warteten in Libyen auf die Überfahrt, sagt der Staatsanwalt von Palermo, Maurizio Scaglia, dessen Behörde gegen die Schlepper ermittelt. Es ist nicht verwerflich, dass wir auch angesichts dieser Zahlen gut schlafen. Die Frage ist, wie sehr wir und die von uns gewählten Regierungen durch unsere Passivität zu Komplizen des Massensterbens geworden sind.

Wir fürchten uns vor der unkontrollierten Einwanderung und schaffen es trotzdem nicht, sie zu kontrollieren. Die Hürden, die wir gegen die Flüchtlinge errichten, sind so hoch, dass auch die Risiken zu ihrer Überwindung größer werden. Das Problem ist, dass die Risikobereitschaft der Flüchtenden wohl immer größer sein wird, als die Hürden, die wir ihnen in den Weg stellen. Die riskante Überquerung des Mittelmeers ist für die meisten nur die letzte Etappe eins jahrelangen Leidenswegs. Nichts kann sie abhalten.

Leichen in Fischernetzen

Die tragischen Folgen der Flucht über das Mittelmeer sind spätestens seit 20 Jahren bekannt. Über 20.000 Menschen sind nach Schätzungen in diesen Jahren ertrunken. 283 Flüchtlinge starben 1996 beim ersten größeren Unglück vor der Küste Siziliens, der sogenannten Tragödie von Portopalo. Wenig später fanden Fischer die Leichname der Ertrunkenen in ihren Netzen. "Außer dem Fisch hatten wir plötzlich eine Leiche im Netz", erzählt einer der Fischer dem italienischen Journalisten Giovanni Maria Bellu. "Der Körper eines dunkelhäutigen Mannes zwischen 25 und 30 Jahren, seine Haut von den Fischen angenagt, am Finger trug er einen Ring." Die Fischer warfen den Leichnam zurück ins Meer, aus Furcht vor den Unannehmlichkeiten mit den Behörden. So wie die übrigen Flüchtlingsleichen, die sie fanden. "Der Ring am Finger hat mich an seine Familie, sein Leben denken lassen", berichtete der Fischer.

Heute liegt ein junger, dunkelhäutiger Mann im Krankenhaus von Catania auf Sizilien. Er war am Sonntag gerettet worden, wegen einer Kopfverletzung wurde mit dem Helikopter in das Krankenhaus geflogen. Dort befragte ihn die Polizei. Der namenlose junge Mann, angeblich aus Bangladesch, von dem ein Foto mit nacktem Oberkörper auf einer Bahre in italienischen Zeitungen zirkuliert, berichtete davon, dass sich 950 Menschen auf dem untergegangenen Boot befunden hätten. Eng aneinander gepresst an Deck des Kutters und eingeschlossen in den Bauch des Schiffes. Als sich der zur Hilfe gerufene portugiesische Frachter "King Jacob" näherte, ist der Kutter gekippt. Die meisten der Körper liegen nun wohl auf dem Meeresgrund in 400 Meter Tiefe. Eine Bergung wäre höchst aufwendig und nur mit Tauchrobotern möglich.

Das erzählen die Mitglieder von Küstenwache und Marine, die am Einsatz beteiligt waren. Von diesen Männern heißt es, sie hätten so viele Tragödien im Mittelmeer erlebt, dass ihnen die Leitlinien, früher der Rettungs-Operation Mare Nostrum, heute des aktuellen Grenzschutz-Einsatzes Triton, ganz egal seien. "Sie retten Menschen", sagt ein Kenner der Vorgänge. "Egal, was die Anweisungen sind."

"Uns kamen die Tränen"

Auch der sizilianische Fischer Vito Margiotta war beim jüngsten Rettungsversuch dabei. Er war einer der Ersten an der Unglücksstelle, wie er der Zeitung "La Repubblica" berichtete. "Ein Inferno, überall Teile. Wir fuhren sehr vorsichtig, um niemanden zu gefährden." Leider seien alle Körper, die er im Meer erspäht habe, schon leblos gewesen. Die Gesichter nach unten gekehrt. "Uns sind die Tränen gekommen", erzählt Margiotta. "Wir haben an diejenigen gedacht, die unten auf dem Grund liegen und für die alle Hilfe zu spät kam. Die Körper werden nie geborgen werden können."

Was bleibt, sind die 24 schwarzen Leichensäcke aus Plastik, die an Deck des Patrouillenschiffs "Bruno Gregoretti" der italienischen Küstenwache lagern. Männer der Küstenwache in weißen Overalls, Atemschutzmasken und Schutzbrillen tragen sie am Hafen von La Valetta auf Bahren von Bord. Zwei Matrosen mit Schirmmütze salutieren. Es ist der unwirkliche Epilog des jüngsten Dramas.

Auch Daniele Caruana ist nach den Rettungsversuchen mit seinem Frachter "Conquest" in La Valetta auf Malta eingelaufen. Der Matrose hat eine Videoaufnahme mit seinem Smartphone vom Unglücksort im Meer gemacht. Ein Mann mit weißen Haaren ist darauf zu sehen, im Wasser, leblos, mit ausgebreiteten Armen. Er hat sich seine beiden Schuhe um den Bauch gebunden, vielleicht um Auftrieb zu bekommen, wer weiß. Auch der Frachter "Conquest" war zu spät. Die Matrosen konnten nur noch bei der Bergung der Leichen helfen, die noch an der Oberfläche schwammen. "Es waren viele Jugendliche darunter", berichtet Caruana einem Reporter. Er habe erst an Land erfahren, wie groß das Ausmaß der Tragödie sei. "Aber die Zahlen", sagt Caruana, "sind nicht besonders wichtig. Wie werden nie genau wissen, wie viele es wirklich waren." Und wie viele noch sein werden.

Hinweis
Livia Klingl, Außenpolitik-Journalistin, rechnet in ihrem jüngst erschienenen Buch zum Thema Flüchtlinge mit der aktuellen Asyl- und Migrationspolitk Österreichs und der EU ab - und präsentiert neben 16 Einzelschicksalen Zahlen, die weit verbreitete Vorurteile widerlegen.
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