Der niederländische Kulturhistoriker und NS-Gegner verdient zu seinem 150. Geburtstag am 7. Dezember erneute Beachtung.
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Ihn zu kennen, ist heutzutage wohl nur noch Eingeweihten vorbehalten. Dabei war der Niederländer Johan Huizinga einst nahezu ebenso bekannt wie sein Schweizer Vorbild Jacob Burckhardt. Dieser hatte ein halbes Jahrhundert vor ihm in seiner berühmtesten kulturgeschichtlichen Publikation schwelgerisch die Schönheit und den Glanz der "Kultur der Renaissance in Ita-lien" gefeiert. Huizinga hingegen setzte sein nicht weniger sinnlich ansprechendes Geschichtsbild anderthalb Jahrhunderte früher an und verlagerte den Schauplatz von Florenz nach Flandern und in das Burgund. Er nannte sein auf einer morphologischen Grundlage entworfenes Werk "Herbst des Mittelalters".
Das späte Mittelalter war wahrlich kein Freudental. Neid, Streitsucht, Habgier, Kämpfe jeder gegen jeden überschatteten die Stimmungslage. Hinzu kam die reale Bedrohung durch Hunger und Pest wie auch die heraufbeschworene durch Hölle, Teufel und Hexenmeister. Der Lebensmut sank, erst in der Frührenaissance hob er sich wieder in die Höhen von Zuversicht und Schönheitskult. Für den mittelalterlichen Menschen galt der Wunsch, ein schönes, genussreiches Leben zu führen, als eitel und gottvergessen: Ein solcher Schritt war, wie Huizinga schreibt, "mit einem hohen Sündengehalt" verbunden. Die rigide mittelalterliche Sittenlehre tat alles, um der Sinnenlust der Menschen enge Grenzen zu setzen.
Sündhafte Freude
Fürsten und der Adel indes lebten nach lockereren Gesetzen. Zwar war über Jahrhunderte das Rittertum das Lebensideal der höheren Stände gewesen. Sein Niedergang im ausgehenden Mittelalter aber war für Huizinga unverkennbar ein Beispiel dafür, wie es wird, "wenn man das Ideal viel zu hoch steckte".
Denn "der Konflikt zwischen Rittergeist und Wirklichkeit tritt dort am deutlichsten zutage, wo das Ritterideal sich inmitten des ernsten Krieges geltend zu machen trachtet". Besah man die ritterliche Lebensform mit nüchternem Wirklichkeitssinn, erwies sie sich längst als unecht, ein "lächerlicher Anachronismus", dessen soziale Brauchbarkeit äußerst schwach geworden war. Dennoch hätte das Ordnungsideal nicht so lange fortgewirkt, "wenn ihm nicht hohe Werte für die gesellschaftliche Entwicklung innegewohnt hätten, wenn es nicht sozial, ethisch und ästhetisch notwendig gewesen wäre". Huizinga folgert daraus: "Alle höheren Formen des bürgerlichen Lebens der neueren Zeit beruhen auf Nachahmung adliger Lebensformen."
Wie bei Jacob Burckhardt wird man beim "Herbst des Mittelalters" hineingezogen in eine so sinnliche wie scharfsinnige Beobachtung einer ferngerückten Kultur, die gleichwohl von sozialen Mustern bestimmt war, die uns zumindest aus regionalen Räumen noch bekannt sind. Nur dass damals sämtliche Genüsse des Lebens, seien es Lektüre, Musik, bildende Kunst, Reisen, Naturfreude, zunächst "ausschließlich durch ihre Glaubensdienstbarkeit als gut anerkannt werden konnten; die Freude daran an sich war sündhaft".
Auch "gegen Ende des Mittelalters, als ein neuer Geist sich regte, war im Prinzip immer noch allein die alte Wahl möglich zwischen Gott und der Welt: die völlige Verwerfung aller Herrlichkeit und Schönheit des irdischen Lebens oder ein vermessenes Zugreifen auf Gefahr der Seele". Freilich: "Die Schönheit der Welt wurde durch ihre erkannte Sündhaftigkeit doppelt verlockend; wer sich ihr hingab, der genoss sie auch mit einer grenzenlosen Leidenschaftlichkeit."
Gestärkt wurde die Verketzerung der irdischen Sinnlichkeit durch den ständigen Verweis auf die Hinfälligkeit des Körpers, auf Tod und Verwesung. In Wort- wie in Bildkunst beherrschten Schauder und Schrecken des Memento mori nahezu die gesamte spätmittelalterliche Vision des Lebensendes. Buchdruck und Holzschnitt hatten der Darstellung des Totentanzes, des Danse macabre, zusammen mit der Ars moriendi "einen breiteren Wirkungskreis verschafft als je irgendein frommer Gedanke zuvor". So resümiert Huizinga: "Der kirchliche Gedanke des späten Mittelalters kennt nur die beiden Extreme: die Klage über die Vergänglichkeit, über den Verfall der Schönheit; und den Jubel über die gerettete Seele in ihrer Seligkeit. Alles was dazwischen liegt, bleibt unausgesprochen."
Spielender Mensch
Huizingas Darstellung bleibt stark dem burgundischen Raum verhaftet, das macht sie auch einseitig. So hebt er mit geradezu patriotischem Stolz die Überlegenheit der flämischen Malerei, etwa eines Jan van Eyck oder Rogier van der Weyden, gegenüber der Formelhaftigkeit der gleichzeitigen regionalen Dichtkunst hervor. Das übrige Europa bleibt, mit Ausnahme Frankreichs, weitgehend ausgeschlossen. Burckhardts und Huizingas Methode, Kunst- und Mentalitätsgeschichte zusammenzuführen, schlug Wellen in der Historikerzunft und fand in der französischen "Annales"-Bewegung eine erweiternde wie auch korrigierende Fortsetzung.
Höfische Feste waren die prunkvollen Hoch-Zeiten des zeitwidrig gewordenen Rittertums. Aus Spiel wurde oft Ernst. Aber Ernst ist das Gegenteil von Spiel. "Über die Grenzen von Spiel und Ernst in der Kultur" hieß Huizingas Rektoratsrede im April 1933 an der Universität Leiden, aus der er seine viel beachtete Studie "Homo ludens" entwickelte. Darin sah er den Ursprung aller Kultur im menschlichen Spiel begründet. Schon Schiller hatte in seinen Briefen "Über die ästhetische Erziehung des Menschen" festgestellt: "Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt."
In großem Bogen, gestützt auf reichhaltiges Quellenmaterial, zeigt Huizinga auf, wie sich aus Mimus und religiösem Kult erst magische Spielhandlungen und nachher die schöpferischen Umgestaltungen von ganzen Weltbildern entwickelt. Kurz: Wie "Kultur in Form von Spiel entsteht".
Manifestierte Freiheit
Für das Kind ist das Spiel die ihm gemäße Form der Aneignung von Wirklichkeit. Spielerisch lernt der Mensch die Welt kennen. Auch für den Erwachsenen manifestiert sich im Spiel die Freiheit, denn ein anbefohlenes Spiel ist keines. "Die Arena, der Spieltisch, der Zauberkreis, die Bühne, die Filmleinwand, der Gerichtshof, sie sind allesamt der Form und der Funktion nach Spielplätze." Sobald ein Spiel-Raum abgesteckt ist, in dem eigene Regeln gelten, ist ein Bannkreis geschaffen, entsteht gewissermaßen ein geweihter Boden, abgeschottet von der gewöhnlichen Welt. Wer hier die Regeln bricht, zerstört das Spiel, wird zum Spielverderber.
Im spielerischen Handeln nimmt nach Huizinga nicht nur alle künstlerische Kreativität ihren Anfang. Der Kulturhistoriker sieht darin auch die großen zivilisatorischen Errungenschaften wie Recht und Ordnung, Verkehr, Erwerb, Handwerk, Wissenschaft und Gelehrsamkeit wurzeln. "Wir spielen immer, wer es weiß ist klug", wusste schon Arthur Schnitzler, Huizingas älterer Wiener Zeitgenosse.
Dass der am 7. Dezember 1872 als Sohn eines Medizinprofessors in Groningen geborene Huizinga ein wacher Zeitgenosse und beherzter Interpret seiner Gegenwart war, zeigte er schon in seiner Diktion im "Herbst des Mittelalters", wenn es dort etwa über die retardierende Wirkung des Ritterideals auf die Wirklichkeit des ausgehenden Mittelalters heißt: "So wie die tragischen Verirrungen von heute dem Wahn des Nationalismus und dem Kulturhochmut entspringen, so entstammten die des Mittelalters mehr als einmal dem ritterlichen Gedanken." Spätestens nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland nimmt sich Huizinga als heftiger Zeitkritiker kein Blatt mehr vor den Mund. Die Aufbruchstimmung der Zwischenkriegszeit war jäh in den Niedergang von Wirtschaft und Demokratie gekippt. Die Politik schwenkte machttrunken um in verheerende Maßnahmen der nationalen Aufrüstung und totalitären Hybris.
"Geschändete Welt"
In brennender Sorge um die Lage Europas, wo inzwischen "das Böse so tief eingefressen ist", begann Huizinga seine 1933 erschienene zeitkritische Publikation "Im Schatten von morgen" mit einem Paukenschlag: "Wir leben in einer besessenen Welt. Und wir wissen es. Es käme für niemanden unerwartet, wenn sich der Wahnsinn urplötzlich in einer Raserei entlüde, die diese arme europäische Menschheit dumpf und apathisch zurückließe, noch mit surrenden Motoren und wehenden Fahnen, der Geist jedoch verschwunden. Verbreitet sind die Zweifel an der Unverbrüchlichkeit des Gesellschaftssystems, in dem wir leben. Fast alle Dinge, die uns früher einmal sicher und heilig erschienen, sind vor unseren Augen ins Wanken geraten: Wahrheit wie Menschlichkeit, Vernunft wie Recht. Da gibt es dysfunktional gewordene Staatsformen, Produktionssysteme, die vor dem Kollaps stehen. Da sind ungezähmt fortwirkende gesellschaftliche Kräfte. Der dröhnende Motor dieser gewaltigen Zeit scheint kurz davor zu blockieren."
Es ist die Zeit seines Lebens, in der das hellste Licht auf seinen Charakter fällt. Als Rektor der Universität Leiden hatte er 1933 einem deutschen antisemitischen Propagandisten Hausverbot erteilt. Die Nazis reagierten auf bekannte Weise: Die Reichsschrifttumskammer setzte seine Bücher auf die "Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums".
Während der deutschen Besatzung der Niederlande wurde Huizinga 1942 einige Zeit im Geisellager St. Michielsgestel interniert und anschließend in den kleinen Ort De Steeg bei Arnheim verbannt. Dort starb der Gelehrte nach kurzer Krankheit am 1. Februar 1945, erst 73-jährig. Der Nachwelt hinterließ er sein letztes Werk: "Geschändete Welt", eine vehement zeit- und kulturkritische Schrift.
Seinen Abgesang auf das Mittelalter hatte er 1919 veröffentlicht, nachdem ein verheerender Krieg das Ende einer Epoche markiert hatte. Und seine Spieltheorie "Homo ludens" wurde 1938 präsentiert - wohl auch als Warnschrift, dass der fundamentale Gegensatz zum Spiel die tödliche Eröffnung eines neuen Kriegs bedeuten würde.
Dazwischen entstand, neben manch anderem (wie etwa auch einer frühen Studie über "Mensch und Masse in Amerika"), 1928 eine wunderbar farbenprächtige Biographie über seinen Landsmann Erasmus von Rotterdam, den großen europäischen Humanisten, der im 16. Jahrhundert verzweifelt um den Erhalt des Friedens gerungen hatte.
Es wurde Huizingas leuchtendstes Werk.
Oliver vom Hove lebt als Dramaturg, Literaturwissenschafter und Publizist in Wien.