Vor 100 Jahren kam Lenin durch die Oktoberrevolution an die Macht: Ein unbequemes Gedenkjahr, um das sich der Kreml drückt.
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Lenin war kein Mann der sanften Worte. "Dieser schmutzige Schaum", wie er seine politischen Gegner nannte, müsse endlich von der Weltrevolution "hinweggespült" werden. Über das Programm der Provisorischen Regierung, die er wenige Monate später stürzen sollte, schäumte er im Frühling 1917: "Diese Schweinehunde! Diese Verräter!"
Dass Lenin bei seiner Wortwahl oft nicht zimperlich war, ist bekannt. Der kleine Mann mit dem Spitzbart und der hohen Stirn verlor rhetorisch schnell die Contenance. "Verräter", "Gauner", "Flöhe", "Ungeziefer" oder "Wanzen", die "von der russischen Erde hinweggefegt" werden müssten - es waren gerade diese verbalen Entgleisungen, die selbst seine Mitstreiter immer wieder schockierten. Diese "blinde, taube, gefühllose Wut", wie es ein langjähriger Weggefährte Lenins, der russische Sozialdemokrat Julius Martow, einmal ausdrückte.
Doch wie wäre Lenin aufgetreten, wenn er heute leben würde? Wenn er seine Thesen nicht mit hastiger Handschrift für die kommunistische Zeitung "Prawda" notiert, sondern in seinen Computer oder sein Smartphone gehämmert hätte? Lenin wäre wohl kaum ein emotionaler Twitter-Fan à la Donald Trump gewesen, der seine Gedanken über die Bourgeoisie und die Weltrevolution in 140 Zeichen hätte bündeln können. Vielmehr wäre er sich wohl in ellenlangen Abhandlungen über die Weltrevolution, den Staat und das Proletariat ergangen, gewürzt mit akribischer Marxismus-Exegese. "Der Aufstand ist eine Kunst", bezog er sich im Sommer 1917 auf ein Marx-Zitat. "Es wäre naiv, eine ‚formelle‘ Mehrheit der Bolschewiki abzuwarten. Keine Revolution wartet darauf."
Wie würde das Revolutionsjahr 1917 in den sozialen Medien von heute aussehen? Eine Timeline, mit den Wutreden von Lenin, den Gedichten von Anna Achmatowa, gefolgt von den lakonischen Notizen des Zaren Nikolaus II. über das Wetter, nicht ahnend, dass er nur wenige Monate später nicht mehr am Leben sein würde?
Ein kühnes Experiment, auf das sich die russischen Journalisten Michail Sygar und Karen Shainyan eingelassen haben. Vor einem Jahr haben sie in Moskau das "Projekt 1917" gestartet. Ein buntes Kaleidoskop der Originalzitate, vom Komponisten über die Zarenfamilie bis hin zu den Revolutionären, Tag für Tag in eine Zeitleiste gepackt. So ist die Seite wie das soziale Netzwerk Facebook oder das russische Pendant Vkontakte aufgebaut. Personen können abonniert, Beiträge kommentiert oder geteilt werden. Eine vielstimmige Online-Chronik einer Zeit, die als die "Russische Revolution" in die Geschichtsbücher eingehen und die Ära des politischen Kommunismus einleiten sollte.
So waren es gleich zwei Revolutionen, die Russland vor 100 Jahren erschütterten: Am 23. Fe-
bruar (heute 8. März) wurde der Zar Nikolaus II. gestürzt und eine provisorische bürgerliche Regierung eingesetzt. Fast genau acht Monate später, am 25. Oktober (heute 7. November) stürmten die Bolschewiken die ehemalige Zarenresidenz in Petrograd, den Winterpalast, stürzten die Provisorische Regierung und setzten der jungen Demokratie mit der "Diktatur des Proletariats" ein Ende. Wenige Monate später stürzte das Land in einen blutigen Bürgerkrieg zwischen den kaisertreuen "Weißen" und den kommunistischen "Roten", der die Gesellschaft noch auf Jahrzehnte hinaus spalten sollte.
Es gibt kaum ein Ereignis der Weltgeschichte, um das sich so viele Mythen und Legenden ranken, wie um die Oktoberrevolu-
tion. Vor allem die Sowjets haben den Sturm auf den Winterpalast in den sieben Jahrzehnten ihrer Alleinherrschaft propagandistisch zu einer spontanen Volkserhebung, einem kommunistischen Schöpfungsmythos, überhöht.
"Eine der verbreiteten Irrmeinungen über die Oktoberrevolution besteht darin, dass die Bolschewiki auf einer Welle der Massenunterstützung für die Partei an die Macht gelangt seien", schreibt der britische Historiker Orlando Figes in seinem Buch "Hundert Jahre Revolution". Ein Propaganda-Märchen, denn im Herbst 1917 wurden die Bolschewiki nur von einer Minderheit in der russischen Gesellschaft unterstützt.
Mehr ein Putsch
Vielmehr hätte die Revolution einem Putsch geglichen, einer überschaubaren Spezialaktion, von der die meisten Petrograder völlig unbehelligt blieben. "Die allgemeine Wahrnehmung des bolschewistischen Aufstands als eines heldenhaften Kampfes der Massen verdankt sich eher Sergej Eisensteins Propagandafilm ,Oktober‘ (1927) als den historischen Tatsachen", so Figes weiter. Man sagt, dass der Winterpalast bei den Dreharbeiten zehn Jahre später stärker beschädigt worden sein soll als 1917 selbst.
Umso wichtiger sei es, dass authentische Stimmen zu Wort kommen, sagt Karen Shainyan, der das "Projekt 1917" mitgegründet hat. "Wir wollten den User in diese Zeit eintauchen lassen, indem wir den Fokus auf den einzelnen Bürger lenken", sagt er. Shainyan, ein bulliger 36-jähriger Journalist mit offenem Sakko und Turnschuhen, führt durch die Moskauer Redaktionsräume, das "Studio der freien Geschichte", wie er sie selber nennt. Minzgrün gestrichene Wände, Jugendstil-Luster, große Flügeltüren und abgewetzte Holztische vom Flohmarkt.
Junge Redakteure tippen die Statusmeldungen in die Masken ihrer Laptops, während von unten der Verkehrslärm der Moskauer Innenstadt herauftönt. Auf dem Fenstersims liegen Propaganda-Plakate aus der Zeit des Ersten Weltkriegs. Wie die Karikatur einer Bäuerin, die gerade lachend einen Soldaten der k.u.k-Armee mit ihrer Heugabel aufspießt.
"Diese Zeit ist die wichtigste und zugleich die am meisten vergessene Periode der russischen Geschichte", erklärt Shainyans Kollege Michail Sygar. So wichtig, dass Sygar dafür sogar seinen Job als Chefredakteur des wichtigsten russischen unabhängigen Fernsehsenders "TV Rain" an den Nagel gehängt hat. Zuvor hatte er noch ein kritisches und viel beachtetes Buch über die politische Ära des russischen Präsidenten Wladimir Putin veröffentlicht.
"Der Raum für wirklichen Journalismus in Russland ist sehr klein geworden", schrieb Sygar zuletzt in einem Gastbeitrag für das "Calvert Journal". "Nicht deswegen, weil es keine Pressefreiheit, sondern schlichtweg keine politischen Prozesse mehr gibt, über die man berichten könnte." Zugleich hat die Bedeutung der Geschichte wieder zugenommen. "Geschichte ist wieder zu einem Instrument für die nationale Ideologie und Propaganda geworden", so Sygar.
Chat-Séance mit Rasputin
Um Publikum anzulocken, haben die Macher von "Projekt 1917" auch mit ungewöhnlichen Formaten experimentiert: Es gibt ein Quiz, das verspricht, herauszufinden, welche Figur man 1917 wohl gewesen sein könnte ("Großfürst oder Bettelpoet?"), eine Chat-Séance mit Rasputin und sogar eine vor-revolutionäre Partnerbörse ("Tinder 1917"). Rund zwei Monate im Vorhinein werden die Texte - Originalzitate aus Briefen, Memoiren oder öffentlichen Reden - bearbeitet und in die Datenbank eingespeichert, aber erst pünktlich am jeweiligen Jahrestag auf die Seite hochgeladen. Die Machtübernahme der Bolschewiken, die nach dem alten julianischen Kalender am 25. Oktober vor genau 100 Jahren (heute: 7. November) stattfand, ist hier also schon gelaufen. Die Oktoberrevolution 2.0, in Echtzeit.
Die "Große Sozialistische Oktoberrevolution" als Social-Media-Spektakel auf dem Smartphone, inspiriert von Mark Zuckerberg - ob das Lenin gefallen hätte, darf freilich bezweifelt werden. Das Projekt füllt indes eine Lücke im Gedenkjahr, denn im Kalender des Kreml kommt das diesjährige Jubiläum kaum vor. Während dem Ende des Zweiten Weltkrieges jedes Jahr am 9. Mai ("Tag des Sieges") mit einer großen Militärparade auf dem Roten Platz und einer Luftshow gedacht wird, finden heuer zum 100-jährigen Jubiläum der Revolutionen keine offiziellen Gedenkveranstaltungen statt. Nur die Kommunistische Partei hat eine Feier angekündigt.
Das Revolutionsjahr 1917 ist ein Jahr, mit dem sich der Kreml sichtlich schwer tut. Immerhin folgt er einer "Geschichtspolitik, die seit zwei Jahrzehnten ein Bild von einem einheitlichen, geschlossenen Russland der Helden und Sieger" zeichnet, wie der deutsche Slawist Gerhard Simon erklärt. Ein Jahr, das zwar den Grundstein für die Sowjetunion legte, aber das Land in einen Bürgerkrieg stürzte, passt da nicht dazu. Umso mehr, als die Bolschewiken nach der Revolution daran gingen, die russisch-orthodoxe Kirche - heute immerhin ein wichtiger Machtpfeiler von Präsident Wladimir Putin - zu demontieren.
Was Putin selbst vom "Roten Oktober" hält, brachte er unmissverständlich zum Ausdruck. "Man hat eine Atombombe unter das Gebäude gelegt, das Russland heißt, die dann später hochgegangen ist", sagte er im Jänner 2016 auf einer Sitzung des Rates für Wissenschaft und Bildung. Putin inszeniert sich selbst gerne als Hüter der Stabilität, insbesondere vor dem Hintergrund der sogenannten "Farbrevolutionen", wie zuletzt in Georgien oder in der Ukraine oder dem "Arabischen Frühling". "Am liebsten wäre es ihm wohl, wenn das Wort ,Revolution‘ überhaupt aus den Köpfen der Russen gestrichen würde", schreibt der russische Journalist Andrej Archangelskij.
Wenn nicht aus den Köpfen, so hat der Kreml zumindest versucht, die Revolution aus dem Kalender zu streichen. 1995 wurde der alte sowjetische Feiertag, der "Tag der Oktoberrevolution", abgeschafft und zehn Jahre später durch den "Tag der Einheit des Volkes" ersetzt, der fortan am 4. November gefeiert wird. Erinnert wird dabei an das Jahr 1612, als die Stadt Moskau von der polnisch-litauischen Besatzung befreit wurde. Ein Gedenken an einen militärischen Sieg - und nicht an eine Revolution. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass der neue Feiertag just in jene Zeit fiel, als in der ukrainischen Hauptstadt Kiew die "Orange Revolution" losbrechen sollte.
Die Frage, wie die Ereignisse von 1917 einzuordnen sind, spaltet die russische Gesellschaft bis heute. Laut einer Umfrage des Radiosenders Echo Moskwy gaben zuletzt 47 Prozent der Befragten an, die Februarrevolution gegen den Zaren Nikolaus II. zu befürworten, während 53 Prozent dagegen votierten. Die Rivalität zwischen den "Roten" und "Weißen" - sowie zwischen diesen, die zu Sowjetzeiten die Gefängnisse und Gulags füllten, und jenen, die sie dorthin steckten - ist auch mehr als 25 Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion nicht aufgearbeitet.
Patriotische Säulenhalle
Anders als etwa in Deutschland gibt es in Russland keine Tradi-
tion, über historische Traumata zu reden, wie Beobachter bemerken. Und auch keinen politischen Willen: So werden Initiativen, die sich für eine Aufdeckung der sowjetischen Repressionen stark machen, von der Politik als "ausländische Agenten" gegängelt, wie zuletzt die Menschenrechtsorganisation "Memorial".
Dabei ist es gerade der Blick in die Vergangenheit, dessen sich der Kreml gerne bedient - freilich nur dann, wenn es seinen eigenen Machtansprüchen dient. So stellt sich Putin gerne in die Reihe der großen, aber brutalen Figuren der russischen Geschichte: Stalin gehört dazu, als Feldherr und Bezwinger des Nationalsozialismus im Zweiten Weltkrieg. Oder Fürst Wladimir, der mittelalterliche Herrscher, der die Ostslawen christianisierte, dem vor einem Jahr eine große Statue in Moskau errichtet wurde. Oder auch Iwan der Schreckliche, der umstrittene Zar, der im 16. Jahrhundert mit eiserner Hand über Russland herrschte und tausende Menschen hinrichten ließ.
Lenin passt nicht in diese patriotische Säulenhalle. Zu umstritten sein Erbe, zu groß der Bruch, zu tief die Gräben. Die Spaltung verläuft dabei nicht etwa zwischen Freund und Feind, sondern quer durch die Machtbasis des Kreml: Selbst im Nationalen Komitee der Russischen Historiker, das im Dezember 2016 von Putin eingesetzt wurde, um das Revolutionsjahr zu bewerten, kamen die Politiker, Geistlichen, Journalisten und Filmemacher auf keinen grünen Zweig. Während die einen die positive Rolle der Sowjetunion im "Kampf gegen den Faschismus" hervorhoben, schossen sich orthodoxe Vertreter auf den verordneten Atheismus unter den Sowjets ein. Sergej Stepashin, ein ehemaliger Chef des Geheimdiensts, sprach sogar von einem "Genozid an der russischen Religion".
Dass die Bolschewiken nach ihrer Machtübernahme einen Sonderfrieden mit den Mittelmächten aushandelten, und dabei fast alle europäischen Territorien abtreten mussten, ist zudem etwas, das die Nationalisten Lenin nie verziehen haben.
Die Revolution als Schandfleck der Nation? Dabei sind es gerade Revolutionen, die das Selbstverständnis von modernen Nationen geprägt haben, wie in Frankreich, England oder den USA. Ähnlich wie dort, so erlebte auch Russland eine bürgerliche Revolution im Februar 1917, mit den Forderungen nach Demokratie und Bürgerrechten, der jedoch acht Monate später eine sozialistische Revolution folgte. Das macht die Revolution in Russland zum Sonderfall, denn spätestens mit dem Zerfall der Sowjetunion 1991 sollte sich herausstellen, dass der Kommunismus - und mit ihm die Revolution - gescheitert war.
Die Weltrevolution - ein historischer Fehler? Sygar und Shaintyan pochen auf eine andere Lesart. "Die Zeit vor dem Oktober war auch eine Zeit der großen Hoffnungen", sagt Shainyan. Durch die Gesetze der provisorischen Regierung schloss Russland nach dem Februar 1917 - zumindest für einige Monate - zu den progressivsten Ländern Europas auf: Die Regierung beschloss eine Amnestie für politische Gefangene, setzte die Todesstrafe aus und löste die Reste der verhassten Geheimpolizei auf.
Die russischen Juden, die zuvor von den Zaren mit antisemitischen Sondergesetzen gegängelt worden waren, erhielten endlich die lang ersehnten Bürgerrechte. Darüber hinaus hält das Jahr 1917 auch eine Botschaft für heute bereit, sagt Sygar: Der weit verbreitete Glaube, die Menschen seien nur Statisten, vom Fluss der großen Weltgeschichte mitgerissen, wird 1917 wiederlegt. "Die Revolutionsepoche war eigentlich durch die Menschen, die Zivilgesellschaft geprägt", so Sygar. Ein Punkt, den das "Projekt 1917" auch zeigen soll.
Bekanntlich war es aber gerade Lenin, der diesem kurzen demokratischen Experiment nur wenig abgewinnen konnte. Die Bourgeoisie hätte es geschafft, "ihre Hintern in die Ministersessel zu quetschen", diese "Schönredner für Arbeiter und Bauern", wie er schimpfte. Vielmehr müsse "das Proletariat diese ‚fertige‘ Staatsmaschine zerbrechen und sie durch eine neue ersetzen, bei der die Polizei, Armee und Bürokratie mit dem bis auf den letzten Mann bewaffneten Volk zu einer Einheit verschmolzen sind".
Touristenattraktion
Bis heute liegt Lenin in seinem Mausoleum auf dem Roten Platz. Es ist nicht viel mehr als eine skurrile Touristenattraktion, in die Kühle des Granitbaus zu treten und einen kurzen Blick auf den Leichnam des ehemaligen Revolutionsführers zu werfen, bevor man von den grimmigen Wärtern zum Ausgang gescheucht wird.
Wächsern und unecht liegt Lenin da, fast wie ein Heiliger, eine Reliquie in einem gläsernen Sarg aus Panzerglas. Mit den staatsmännisch gefalteten Händen, die rechte Hand zu einer leichten Faust geballt. Um zumindest die sterbliche Hülle zu bewahren, wurden schon zu Sowjetzeiten alle inneren Organe entfernt. Lenin ist inzwischen hohl.
Halb hohl, halb heilig: Es gibt wohl kein Bild, das anno 2017 das russische Verhältnis zu Lenin besser beschreibt.
Simone Brunner hat Slawistik und Germanistik in Wien und St. Petersburg studiert. Derzeit arbeitet sie als freie Journalistin in Wien – und beschäftigt sich vor allem mit Osteuropa.