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Tottenham als soziale Revolte zu bezeichnen, greift zu kurz

Von Alexander U. Mathé

Analysen

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Die Unruhen von Tottenham bringen die bei solchen Zwischenfällen üblichen Erklärungsansätze aufs Tapet. Den linken, der in den Tumulten den logischen Dammbruch aufgestauter sozialer Ungerechtigkeit, Rassismus und Unterprivilegierung sieht. Und den rechten, der in den Randalierern eine Bande von Kriminellen und integrationsunwilligen Tunichtguten sieht, die lieber arbeiten sollten. Am Ende haben wahrscheinlich beide recht.

Krawalle wie die in Tottenham sind zum Teil einer nicht geglückten Sozial- und Integrationspolitik geschuldet. In heruntergekommenen Orten an den Stadträndern entsteht - so wie auch in Frankreich - eine Subkultur, in der schwache soziale Schichten und Immigranten in Armut aufeinandertreffen. Perspektivenlosigkeit kennzeichnet auch Tottenham: hohe Arbeitslosenrate, Armut, eine steigende Anzahl an Raubüberfällen und Spannungen zwischen der Polizei und der Bevölkerung, zumal der afro-karibischen.

Es entsteht eine Wir-gegen-die-anderen-Mentalität, wobei auf der einen Seite die Einwohner des Grätzels stehen, die sich schlecht behandelt fühlen, und auf der anderen der Staat, vertreten durch die Polizei. Das Resultat ist Isolation statt Integration. In so einem Umfeld stärkt die Tötung eines Gruppenmitglieds durch die Polizei das Blockbewusstsein und den Verteidigungsinstinkt - so wie auch in den Pariser Vororten der Tod von zwei Jugendlichen zum letzten großen und wochenlang anhaltenden Aufstand geführt hat.

Doch in der flammenden Gewalt ist es dann schwer zu erkennen, wer was warum tut, oder gar die Ausschreitungen auf einen Nenner zu bringen. Wäre es nur ein sozialer Protest, würden wohl nicht Häuser, Autos und Geschäfte in Flammen stehen, mit dem Effekt, dass Leute, die ohnedies nicht mit Reichtum gesegnet sind, obdachlos werden, beziehungsweise ihre Existenzgrundlage verlieren. Für eine Rassenrevolte wiederum fehlt die klare Nachricht, dass es sich um ebensoeine handelt.

Zu den zunächst friedlichen Demonstranten haben sich aggressionsgeladene Aufwiegler gemischt, die teils aus Wut, aber sicher auch teils aus Lust an der Zerstörung ganze Gebäude in Brand gesetzt haben.

Auffällig ist daneben, dass wohl einige Angriffe gezielt via Smartphones und soziale Netzwerke im Internet organisiert waren. In Tottenham hat das Bandenwesen zuletzt stark zugenommen. Der Verdacht liegt nahe, dass hier Wut und Ängste der Bevölkerung für die eigenen Zwecke missbraucht wurden. So konnten Kriminelle unter dem Deckmantel des Protests gezielt Elektrogeschäfte zerstören und sich ihre Wägen mit Fernsehern, Computern und Handys füllen.