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Regierung und Opposition in Großbritannien sind sich in der Anamnese der Krawalle einig, haben aber keine konkrete Lösung anzubieten.
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Nach den gewalttätigen Krawallen in England hielt der konservative Premier David Cameron der "kaputten Gesellschaft" eine gepfefferte Kapuzinerpredigt: "Unverantwortlichkeit, Egoismus, Kinder ohne Väter, Schulen ohne Disziplin, Verbrechen ohne Strafe, Rechte ohne Verantwortung, Gemeinschaften ohne Kontrolle. Die schlimmsten Seiten der menschlichen Natur werden akzeptiert und zum Teil vom Staat sogar gefördert." Man mag das als kulturpessimistische Anamnese abtun, die einen "moralischen Zusammenbruch" an konservativen Werten bemisst.
So einseitig stimmt das aber nicht, denn der sozialdemokratische Oppositionsführer Ed Miliband donnerte gewaltig mit: "Die da auf die Straße gingen, sehen eine Gesellschaft, die jene glorifiziert, die Millionen verdienen, während sie ums Überleben kämpfen. Sie sehen den Kult um Berühmtheiten, der den Wert harter Arbeit ablöst. Wir haben heute beides nebeneinander: jene, die so viel haben, und jene, die keinen Platz haben in unserer Gesellschaft. Es wollen aber alle eine Chance haben, voranzukommen."
Cameron sprach von einem "moralischen Zusammenbruch in Zeitlupe" und dem Wunsch der Menschen, den Kriminellen auf der Straße mit aller Härte entgegenzutreten und die sozialen Probleme zu lösen. Miliband konterte, dies sei "der übliche politische Instinkt mit Ankündigung neuer Gesetze und Aktivierung alter Vorurteile und seichter Antworten." Man müsse die Ursache der Krawalle analysieren.
Beide mochten wohl ihre politische Klientel besänftigen, den Kern des Problems könnten sie in Frantz Fanons "Die Verdammten dieser Erde" nachlesen, einem Weltbestseller von 1961: "Systematische Benachteiligung in Bezug auf Ernährung, Wohnung, Gesundheit, Ausbildung und politische Teilnahme führt zu Gewalt." Das trifft offensichtlich auf den Londoner Stadtbezirk Tottenham zu, den Brandherd und Brandbeschleuniger der jüngsten Krawalle. Tottenham ist nach Einschätzung von Soziologen Europas größter ethnischer Schmelztiegel, in dem an die 200 Sprachen nicht nur der Verständigung dienen. Das mag den Namen des 1883 gegründeten lokalen Fußballklubs erklären: Hotspurs für Hitzköpfe oder Heißsporne.
Uns Kontinentaleuropäern steht es schlecht an, den Briten die Leviten zu lesen. Gleichwohl ist die britische Klassenstruktur unverkennbar - sozial, ökonomisch und moralisch. Beispielsweise erstklassige Bildung und Medizin für jene, die nicht jedes Pfund umdrehen müssen - der Rest soll sehen, wo er bleibt. Oder ein Königshaus, das mit Skandalgeschichten die Schlüssellochgucker der ganzen Welt unterhält - und jetzt zu den Krawallen vornehm schweigt. Wen also meinte Cameron konkret mit dem Aufruf zu "entschlossener moralischer Erneuerung"?
Nordamerika brach 1776 mit der britischen Kolonialmacht und schrieb in seine Unabhängigkeitserklärung das "unveräußerliche Grundrecht, nach Glück zu streben". Von diesem Recht kann der Schmelztiegel Tottenham nur träumen.
Clemens M. Hutter war bis 1995 Ressortchef Ausland bei den "Salzburger Nachrichten".
Dieser Gastkommentar gibt ausschließlich die Meinung des betreffenden Autors wieder und muss sich nicht zwangsläufig mit jener der Redaktion der "Wiener Zeitung" decken.