Zum Hauptinhalt springen

Tourismusforscher: "Das Jahr ist zum Vergessen"

Von Alexander Dworzak, Petra Tempfer und Martin Tschiderer

Politik

Von Deutschlands Lockerung der Grenzkontrollen wird der heimische Städtetourismus laut Wifo am wenigsten profitieren.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 4 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Mehr als 50 Grenzübergänge gibt es zwischen Deutschland und Österreich, die Grenze selbst ist mehr als 800 Kilometer lang. Ab Samstag wird sie nach den strengen Grenzkontrollen zur Eindämmung des Coronavirus wieder leichter passierbar sein: Die Kontrollen sollen gelockert werden, kündigte Deutschlands Innenminister Horst Seehofer am Mittwoch an: "Wenn die Situation besser geworden ist, kann man manche Dinge aufgeben."

Es wird dann nur noch stichprobenartig und nicht mehr systematisch kontrolliert. Ab 15. Juni soll auch dies beendet werden, sofern das Infektionsgeschehen dies zulasse. "Es ist weiterhin unsere oberste Aufgabe, die Infektionsketten zu unterbrechen", machte der Minister deutlich. Seehofer will sich dabei am Richtwert von maximal 50 Corona-Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern binnen sieben Tagen in den Gemeindeverbänden der Landkreise und den kreisfreien Städten orientieren.

Bundeskanzler Sebastian Kurz bestätigte die Umstellung auf stichprobenartige Kontrollen. Wie diese konkret aussehen könnten, dürfte noch nicht vollständig geklärt sein. Man werde die Gesundheitsbehörden je nach ihrem Bedarf bei Kontrollen unterstützen, hieß es aus dem Innenministerium zur "Wiener Zeitung".

Von 13 bis 58 Prozentaller Nächtigungen

Von einer "großen Erleichterung" für die Menschen und die Wirtschaft im Freistaat und in Österreich sprach Bayerns Innenminister Joachim Herrmann. Leben doch hunderttausende Deutsche und Österreicher im jeweils anderen Land, die wirtschaftliche Verflechtung ist sehr eng. Die Öffnung wurde daher auf beiden Seiten der Grenze bereits sehnsüchtig erwartet.

Eine von den Reisebeschränkungen der vergangenen Wochen stark betroffene Gruppe war jene der deutschen Studierenden, die aufgrund der deutschen Hochschulbeschränkungen traditionell zahlreich in Österreich leben. Die Einreise nach Deutschland, etwa um Familienangehörige zu besuchen, war ihnen zwar auch bisher grundsätzlich möglich. Aufgrund der drohenden Quarantäne-Maßnahmen sei diese Option allerdings nicht allzu üppig in Anspruch genommen worden, heißt es aus der deutschen Botschaft in Wien.

Auch die Tourismusbranche atmet auf. Die Lockerungen erfolgten rechtzeitig zum Start in die Hauptferienzeit von Juni bis August, befand Petra Nocker-Schwarzenbacher, Obfrau der Bundessparte Tourismus- und Freizeitwirtschaft in der Wirtschaftskammer. Von den insgesamt rund 152 Millionen Nächtigungen in Österreich pro Jahr entfielen 37,1 Millionen auf deutsche Urlauber, sagt Tourismusexperte Oliver Fritz vom Wirtschaftsforschungsinstitut (Wifo) zur "Wiener Zeitung", obwohl es freilich regionale Unterschiede gebe.

Im Burgenland zum Beispiel seien es nur 13, in Vorarlberg indes 58 Prozent aller Nächtigungen. Betrachtet man ausschließlich die Nächtigungen ausländischer Gäste, so entfallen laut Fritz 50 Prozent auf deutsche Urlauber. Die Tourismusbranche spüre die Krise gewaltig - sie habe fast drei Monate dieses Jahres verloren. "Das kann sie nicht mehr aufholen, das Jahr ist zum Vergessen", meint Fritz.

Denn selbst nach der Grenzöffnung werden die Gäste vermutlich nicht im selben Ausmaß wie vor der Krise ins Land strömen. Nicht nur, dass einige aufgrund der wirtschaftlichen Maßnahmen in den Unternehmen womöglich gar keinen Urlaub mehr haben. "Viele haben vielleicht Angst vor einer Ansteckung oder sind unsicher, was passiert, wenn es im Hotel einen Infektionsfall gibt", sagt Fritz. Die Unsicherheit sei sehr groß.

Der Städtetourismus werde daher am wenigsten von der Grenzöffnung profitieren. Dazu komme, dass Veranstaltungen wie Konzerte und Theateraufführungen, die der Motor für Städtereisen sind, wegfallen. Mehr als zehn Prozent der Nächtigungen in Wien entfallen auf den Kongresstourismus. Bereits abgesagte Kongresse in kurzer Zeit wieder zu organisieren, sei laut Fritz aber schwierig. Er geht daher vielmehr von einer Verschiebung vom Städte- zum Tagestourismus aus, und zwar auch in Vorarlberg, Tirol, Salzburg und Oberösterreich.

Im Gegensatz zu touristischen Reisen war der Grenzübertritt für Berufspendler auch während der vergangenen Wochen ohne gröbere Einschränkungen möglich. Zwar gibt der ausgeprägte Föderalismus in Deutschland den Bundesländern großen Spielraum bei Regelungen. Ein Mustererlass des deutschen Innenministeriums nahm allerdings Berufspendler grundsätzlich von den Reisebeschränkungen aus. Wer in Österreich wohnt, aber in Deutschland arbeitet, konnte also auch bislang die Grenze passieren.

Regelungen mit der Schweizund Liechtenstein

Eine ähnliche Regelung wie mit Deutschland wolle man auch mit der Schweiz und Liechtenstein zustande bringen, erklärte Kurz. "Wo es möglich ist, wollen wir einen möglichst ungehinderten Grenzverkehr", sagte der Bundeskanzler. Zuversichtlich zeigte sich Kurz bezüglich einer raschen Regelung für die Öffnung der Grenzen in benachbarte Staaten in Osteuropa. Mit diesen wolle man in den nächsten Tagen, spätestens nächste Woche eine "abgestimmte" Lösung finden, sagte er.

Deutschlands aktuelle Lockerung gilt nicht nur für die Grenze zu Österreich, sondern auch für die Übergänge in die Schweiz und nach Frankreich. Eine Sonderregelung traf die Regierung in Berlin mit Luxemburg: Dort entfallen Grenzkontrollen bereits ab Samstag komplett. Eine ähnliche Lösung wird derzeit mit Dänemark ausverhandelt. An den Grenzen zu Belgien und den Niederlanden hat es bereits bisher keine Grenzkontrollen gegeben.

Keine Lockerung strebt Deutschland hingegen bei Personen aus Italien und Spanien an. Seehofer betonte, bei der Verlängerung der bestehenden Regelung sei sich Deutschland mit Italiens Nachbarn Österreich, Frankreich und der Schweiz einig. Alle Einreisenden aus Italien und Spanien müssen in 14-tägige häusliche Quarantäne.

Die Selbstisolierung behält Deutschland zumindest bis Mitte Juni auch für Personen bei, die aus Staaten außerhalb der EU einreisen - etwa aus den USA und Russland, jenen Ländern mit den meisten positiv auf Sars-CoV-2 getesteten Personen. "Ich kann Ihnen beim besten Willen nicht sagen, wie weit Russland im Juni sein wird", erklärte Seehofer. Die politische Fahrt auf Sicht geht trotz Lockerung in einigen Bereichen weiter.