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Toxischer Nebel

Von Judith Belfkih

Leitartikel

Die Wirklichkeit schert sich nicht um die Wahrheit.


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Kein Spion, kein Whistleblower, kein politischer Aktivist: Ein junger, als charismatisch beschriebener Militärmitarbeiter soll hinter den jüngsten Akten-Leaks stecken. Geteilt hat der als "OG" bekannte Mann die Dokumente, Recherchen der "Washington Post" zufolge, in einer Chat-Gruppe ebenfalls militär- und waffenbegeisterter Männer.

Welche Motivation hinter dem Leaken der brisanten Dokumente steckt, ist noch nicht klar, als Weltverbesserer beschreiben seine von der Zeitung interviewten Chat-Kollegen den Leaker nicht, verweisen eher auf seine "düstere Meinung zur US-Regierung". Der Verdacht liegt nahe, dass hier verlorenes Vertrauen in den Rechtsstaat oder politische Enttäuschungen eine Rolle spielen; dass hier ein junger Mann mit düsterem Blick auf die Welt mit Geheimdienstinformationen um sich schießt; einen fatalen Amoklauf begeht mit nebulösem, teils toxisch verdrehtem Halbwissen als Waffe.

Die Folgen der Aktivitäten in der verschworenen Chat-Gruppe sind jedenfalls immens. Einmal für die USA, die unter Verdacht stehen, dass geheime Dokumente selbst in Händen ihrer Geheimdienste nicht mehr sicher sind. Zudem zeigen die Akten erneut, wie intensiv die USA offenbar selbst Verbündete beobachten. Dieser doppelte Imageverlust wird nur schwer zu polieren sein.

Auswirkungen hat das Datenleck freilich auch auf den Krieg in der Ukraine - auf beiden Seiten. Von der Führung in Moskau zeichnen die Papiere ein chaotisches Bild: ein angeschlagener Präsident, hohe Militärs mit Sabotage-Absichten, Streit um Munition und verschleierte Opferzahlen. Die ukrainische Seite steht nicht besser da: Fehlende Ausrüstung lässt laut Analysten selbst die USA an der Schlagkraft der ukrainischen Armee zweifeln.

Die US-Behörden ermitteln intensiv in der Causa und prüft die Echtheit der teils manipulierten Dokumente; viele scheinen authentisch zu sein. Doch die Frage nach dem Wahrheitsgehalt der Akten ist leider nebensächlich geworden. Den fatalsten Schlag in dieser Affäre hat einmal mehr das Vertrauen auf die Verlässlichkeit von Information erlitten. Ob und welche Fakten sich in diesem Datennebel als wahr erweisen, zählt nicht. Es sind medial transportierte, starke verbale Bilder, die bleiben - von Wladimir Putin bei der Chemotherapie und dem Machtkampf im Kreml über zerstrittene Söldner und ukrainische Soldaten ohne Ausrüstung bis zu den alle Welt ausspionierenden USA. Diese Bilder, ob sie stimmen oder nicht, formen jedes für sich den Blick auf die Welt und damit die Wirklichkeit. Neu ist diese Erkenntnis freilich nicht. Nur wird es in digitalen, künstlich intelligenten Zeiten zunehmend schwer, in dieser rasanten Wirklichkeitsbildungsmaschinerie noch so etwas wie einen Wahrheitsfunken auszumachen.