Wohl kaum eine slowakische Stadt spiegelt Licht und Schatten des Wirtschaftsbooms deutlicher wider als die alte Stadt Lucenec an der Grenze zu Ungarn.
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Es gibt nichts zu deuteln: Die Goldfische von Lucenec machen den Betrachter glücklich. Jedenfalls jeden von auswärts, der sich in der südostslowakischen Stadt unweit der ungarischen Grenze einmal zur Teichanlage vor dem dreistufigen Wolkenkratzerensemble "Goldener Phönix" vorgearbeitet hat.
Andere Menschen finden sich dort nicht mehr ein. Die Lucenecer sind nicht etwa aus Prinzip jedem Carassius gibelio forma auratus abgeneigt, wie die wissenschaftliche Bezeichnung des Goldfischs lautet. Sie waren sogar fast alle einmal der Ansicht, nirgendwo sei mehr Goldfisch-Pracht vorstellbar als gerade in ihrer Stadt. Schließlich tummeln sich in dem Teich Abkömmlinge nahezu aller rund 30 bekannten Zuchtformen.
Nein, die Lucenecer mögen die Heimstatt der Fische der Bauten wegen nicht, zu deren Verschönerung der Teich vor sechs Jahren geschaffen wurde. Die in einer Stadt mit nicht einmal 28.000 Einwohnern geradezu gigantisch anmutenden drei Türme stehen nämlich nahezu leer.
Moderner Verfall
Es ist schwer, eine Erklärung dafür zu finden, warum es mit dem in fröhlichen Farben erstrahlenden "Goldenen Phönix", in den Privatanleger rund 90 Millionen Euro investiert haben sollen, so weit kommen musste. Eine leicht verwitterte Tafel an einem der beiden Wolkenkratzer verkündet nur, dass die Türme samt dazugehörigem Hof seit 2006 öffentlich zugänglich sind. Auf einem ausgebleichten Schild wird erläutert, welch zukunftsweisende Impulse die Bauherren eines ökologischen Wohnviertels nahe Lucenec den Erfahrungen mit dem Projekt "Goldener Phönix" verdanken. Mehr ist nicht zu erfahren.
Der Eintrittsbereich des den Türmen angeschlossenen Hotels "Reduta", das auf seiner Homepage mit "garantiert unvergesslichen Erlebnissen" für sich wirbt, ist verwaist. Die Besucher der beiden Cafés in dem Komplex wiederum wollen "zu dem hier" nicht mehr sagen, als dass es sich um eine überaus ärgerliche Angelegenheit handle. Diese Deutung scheint Konsens zu sein in einer Stadt, die sich in der Gestalt von Türmen einmal das modernste Wahrzeichen der Slowakei verpassen wollte und heute nur mehr bemüht scheint, diesen Fauxpas totzuschweigen.
Zu den offiziellen Sehenswürdigkeiten zählt der "Goldene Phönix" jedenfalls nicht. Dieses Schicksal teilt er mit den Kolonnaden unweit des Bahnhofs. Dort wurden vor Jahren Geschäftsräume geschaffen, in denen sich einige hundert Geschäftsleute hätten verwirklichen sollen. Insofern es denn überhaupt jemanden hierher zog, meldete er alsbald Konkurs an. Aber immerhin: Die angeblich beste Friseurin der Stadt hält unbeirrt die Stellung.
Nicht nur die Relikte der von vorneherein zum Scheitern verurteilten megalomanischen Projekte wirken in Lucenec wie Herbergen für Geister. Nur wenige Schritte vom "Goldenen Phönix" entfernt, befindet sich die Synagoge, die 1925 errichtet wurde. Sie ist kaum mehr als eine Ansammlung schlecht zusammenhaltender Fassaden. Eine Restaurierung scheiterte bisher an den leeren Kassen der Stadt.
Ende September 2012 beschloss die Stadtverordnetenversammlung, die Stadt Lucenec solle die Synagoge für einen Euro vom Eigentümer, dem ortsansässigen Unternehmen Kobra, erwerben und zu einem multifunktionalen Kulturzentrum umwandeln. Kobra soll fünf Prozent der Sanierungskosten tragen und erhält das Gebäude nach erfolgreicher Rettung unter der Voraussetzung zurück, dass sie es der Stadt kostenlos für Veranstaltungen zur Verfügung stellt. Allerdings muss bis spätestens Ende 2013 nicht nur klar sein, wie die Sanierung finanziert werden soll, sondern es muss auch schon damit begonnen worden sein. Ansonsten wird die Synagoge für einen Euro an einen privaten Investor verkauft. Man werde sich um Gelder aus dem Staatshaushalt und von der EU sowie um Unterstützung durch Stiftungen oder private Fördertöpfe bewerben, so Stadtsprecherin Maria Hornakova.
Die Kosten für die Sanierung gehen wohl in die Millionen. Dabei steht die Suche nach Sponsoren in Zeiten allgemeinen Sparzwangs unter einem denkbar ungünstigen Stern.
Die Lucenecer, wenn sie denn überhaupt darüber sprechen mögen, wissen keine Erklärung dafür, warum es in ihrer Stadt nicht aufwärts gehen will. Mit einer Arbeitslosenquote von durchschnittlich 25 Prozent liegen die Stadt und der zugehörige gleichnamige Bezirk auf Platz 5 der Regionen mit den schlechtesten Beschäftigungschancen in der Slowakei.
Lust am Experiment
Dabei gelten die Lucenecer traditionell als findig und kreativ. Franz Lehár fand sie sogar so kultiviert, dass er sich zwischen 1890 und 1894 gerne zu Gastspielen im Hotel "Vigado", dem heutigen "Reduta", einfand. Und heutzutage ist auf der offiziellen Homepage davon die Rede, dass Lucenec oft die erste Stadt in der Slowakei sei, die Neues ausprobiere. Die Experimentierfreude schlägt sich etwa in unzähligen Feldern mit - in der Slowakei an sich noch nicht sehr populären - Solaranlagen nieder.
Nur wenige slowakische Städte leisten sich ein so professionelles Marketing wie Lucenec. Darüber hinaus eilt den Einwohnern der Ruf voraus, sie seien Stehaufmännchen. Davon zeugt beispielsweise das seit dem 16. Jahrhundert gebräuchliche Wappen mit einem Pelikan auf grün-blauem Schild. Die Bezugnahme auf den Vogel, der in der christlichen Ikonographie seine toten Jungen mit dem eigenen Blut wieder ins Leben holt, ist zahlreichen verheerenden Bränden geschuldet, dieLucenec über die Jahrhunderte erlebte, von denen es sich aber stets wieder erholte.
All das wären an sich gute Voraussetzungen dafür, dass es voranginge. Und doch gibt es nur eine Handvoll größerer Unternehmen. Mit dem Automobilzulieferer Johnson Controls hat gerade einmal ein bedeutender Auslandsinvestor den Weg in die Stadt gefunden. Damit zählt Lucenec bisher zu den Städten, die vom trotz globaler Krise anhaltenden Wirtschaftswachstum in der Slowakei kaum etwas spüren.
Bis 1918 hat Lucenec eine - gemessen an seiner Größe - wirtschaftlich bedeutende Rolle gespielt. Im 19. Jahrhundert wurde die Pest-Losonczer Bahn errichtet; außerdem entstanden zahlreiche kleinere Industriebetriebe, zu denen Anfang des 20. Jahrhunderts eine Fabrik für Landwirtschaftsmaschinen hinzukam.
Gerade junge Leute sehen heute oft keine Perspektive in ihrer Heimatstadt. Zu ihnen zählt die 19-jährige Zuzana, die inzwischen Jus an einer der unzähligen privaten Hochschulen im Umland der Hauptstadt Bratislava studiert. Eigentlich kann sie sich keine schönere Stadt als Lucenec vorstellen. "Das relativ weitläufige historische Zentrum, die Markthalle mit dem angeblich größten Blumenmarkt der Slowakei, die kulturelle Vielfalt, das hat schon etwas. Und ich glaube auch, dass man hier vieles ausprobieren kann", betont sie. Doch dazu brauche man Geld und "und das hat hier eben keiner. Ich glaube, wir könnten etwas an unserer Situation ändern, wenn wir öfter einmal andere zuerst schauen ließen, ob eine Idee auch wirklich funktioniert."
Bis heute ist nicht einmal geklärt, welchen Ursprungs der Name Lucenec ist. In mittelalterlichen lateinischen Texten werden Stadt und Umgebung wohl aufgrund der damaligen geographischen Gegebenheiten - das Territorium wird als schlammig und morastig beschrieben - als "Lutetia Hungaricorum" bezeichnet. Der Universalgelehrte Matthias Bel führte den Namen im 18. Jahrhundert auf den Reichtum der Gegend an Wiesen und Weideplätzen zurück.
In einer von Bela IV. im Jahre 1247 ausgestellten Urkunde heißt die Stadt "Luchunch". Darauf gründet sich die Deutung, der zufolge die ersten Siedler aus dem Königreich Ungarn im 10. Jahrhundert schon eine slawische, nach dem Fluss Luchunch benannte Siedlung vorfanden.
Insgesamt sind mehr als 30 historische Bezeichnungen bekannt, die Abwandlungen des ursprünglichen Luchunch darstellen. 1786 wurde die Stadt erstmals mit einer deutschsprachigen Bezeichnung, Loschontz, belegt. Dies war die Transkription des seit dem 15. Jahrhundert gebräuchlichen ungarischen "Losonc", das auf das 1552 ausgestorbene ungarische Adelsgeschlecht der Lossonczy verweist. (Unter den Karpatendeutschen war auch der Name "Lizenz" im Gebrauch.)
Von "Maier" zu "Majr"
Zugewanderte deutscher Zunge spielten in der Geschichte Lucenec eine bedeutende Rolle. Im Jahre 1128 soll der Heilige Lambert von Neuwerk eine Marienkapelle errichtet haben, 1275 wurden deutsche Bergleute vom ungarischen König László dem Vierten mit der Suche nach Silber beauftragt. Seit dem 18. Jahrhundert strömten zahlreiche Glaser aus Deutschland und Österreich in die Gegend um Lucenec. Bis ins 19. Jahrhundert stieg ihr Anteil an der Bevölkerung kontinuierlich.
Aus Grabinschriften lässt sich rekonstruieren, dass jeder dritte Einwohner deutschen oder österreichischen Ursprungs war. Ende des 19. Jahrhunderts wurden die Namen der Deutschsprachigen allerdings zunehmend slawisiert, indem etwa aus einem "Maier" ein "Majr" wurde. Damit schwand auch zunehmend ihr Einfluss.
Nach dem Zweiten Weltkrieg galt Lucenec als "überwiegend ungarisch", weil es in Folge des "Ersten Wiener Schiedsspruchs" vom 2. November 1938 bis 1944 zu Ungarn gehört hatte. Deshalb mussten vor allem Ungarn die Stadt verlassen. Trotzdem zählt Lucenec auch in der heutigen Slowakei zu den Städten mit einem vergleichsweise hohen ungarischsprachigen Anteil von Einwohnern, nämlich gut einem Zehntel.
Zur Tschechoslowakei gehörte Lucenec also nur zeitweise (1918 -1938, 1944-1992). Vielleicht sind seine Einwohner heute genau deshalb so bemüht, sich als "Slowaken" zu profilieren. So oft wie hier an Geschäften findet sich nicht einmal in den Hochburgen der Slowakischen Nationalpartei der Hinweis, hier werde ausschließlich "tradtionelle", d.h. slowakische Ware angeboten.
Immerhin gestatten sich die Lucenecer eine kleine Unart, mit der sie durchblicken lassen, dass sie ihre Stadt eben doch als kulturellen Schmelztiegel begreifen. Unter Slowaken gilt es als ausgesprochen unfein, Dialekt zu verwenden. Die Lucenecer brechen diese ungeschriebene Regel, indem sie sehr nasal sprechen. Dadurch ist ihre Nähe zu Ungarn unverkennbar.
Karin Rogalska, geboren 1971, lebt in Bratislava und berichtet als Korrespondentin der "Wiener Zeitung" über Mitteleuropa.