Wir erleben dieser Tage hautnah, auf wie dünnem Eis die bisherige Integration der Europäischen Union gebaut ist. Die Schuldenprobleme einiger südlicher und westlicher Peripheriestaaten reichen aus, die gesamte Währungsunion in Frage zu stellen. Und jetzt reichen einige zehntausend nordafrikanische Wohlstandsflüchtlinge aus, mit der Reisefreiheit ein weiteres Kernelement des Einigungsprozesses im Kern zu erschüttern.
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Gut möglich, dass demnächst an weiteren, für das Funktionieren der Union zentralen Ausgleichsmechanismen gerüttelt werden wird.
Wer für diese Entwicklung nur den Aufstieg der großen Vereinfacher und die nackte Panik der etablierten Parteien vor dieser neuen Konkurrenz verantwortlich macht, greift mit seiner Analyse zu kurz. Aus dieser Perspektive ist das bisherige Zusammenwachsen Europas eine einzige große Erfolgsgeschichte - und wer diese Perspektive nicht teilt, ist lediglich noch nicht aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit befreit worden.
Das Problem ist nur: Eine gar nicht so kleine Zahl von Bürgern in Europa entfernt sich innerlich von der Vision eines integrierten Europas - und immer mehr tun dies auch lautstark bei Wahlen und in Umfragen kund. Europa droht zu einem politischen Schönwetterprojekt zu verkommen.
Für diese Entwicklung gibt es rationale Gründe: Europa ist ein alternder Kontinent, der es durch eigenen Fleiß, einige historische Glücksfälle und eine gehörige Portion Rücksichtslosigkeit zu einem unvorstellbaren Wohlstand gebracht hat. Wer ganz oben angekommen ist, will vor allem eines nicht: verlieren, was er erreicht hat.
Dieser Logik beugt sich auch die Politik. Vor allem, wenn sie kein Konzept hat, wie der erworbene wirtschaftliche Wohlstand anders für die Zukunft gesichert werden kann, als stur auf dem bisher Erreichten zu beharren. Selbst dann, wenn nicht irgendwelche Fremden die Leidtragenden sind, sondern die eigenen Nachkommen.
Es ist das tragische Paradoxon der repräsentativen Demokratie in Europa, dass sie - die eigentlich dafür entwickelt wurde, über den Tellerrand der aktuellen Tagesereignisse auf die Herausforderungen der Zukunft zu blicken - an der Aufgabe scheitert, den Bürgern erstrebenswerte Zukunftsvisionen jenseits des Status quo zu präsentieren. Die Parlamente und ihre Regierungen sind zu Sklaven aktueller Stimmungen verkümmert.