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Tragödie von Kunduz: Transparenz nur dann, wenn es die USA nicht trifft?

Von Analyse

Analysen

In Berlin rückt man drei Tage nach dem Inferno, das die deutsche Bundeswehr in Afghanistan losgetreten hat, schrittweise von der ursprünglichen Version ab. Die lautete: Taliban haben zwei Tanklastzüge entwendet. Ein deutscher Oberst, der für das Gebiet rund um Kunduz militärisch verantwortlich ist, gab den Befehl, die Fahrzeuge zu bombardieren. Dabei wurden 56 Taliban getötet, zivile Opfer gab es keine. | Dass daran etwas nicht stimmen konnte, war schnell klar. Nachrichtenagenturen, die Mitarbeiter an Ort und Stelle haben, berichteten von verletzten Zivilisten, die in Spitälern behandelt wurden. Nachfolgende Meldungen ließen dann das Schlimmste befürchten: Demnach ist einer der Tanklastzüge in einem Flussbett hängen geblieben, die Taliban mobilisierten Bewohner der umliegenden Dörfer, die mit Behältern anrückten, um den Treibstoff abzuzapfen. Als um 2.28 Uhr Ortszeit die von einem US-Flieger abgeworfenen Bomben einschlugen, ging das Fahrzeug in einem riesigen Feuerball auf. Die Vermutung, dass unschuldige Zivilisten getötet wurden, lag also nahe.


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In Berlin trägt man dem jetzt Rechnung. Verteidigungsminister Franz Josef Jung hat eingeräumt, dass es zivile Todesopfer gegeben haben könnte.

Bemerkenswert ist aber, dass die Deutschen offenbar gezwungen sind, das Ausmaß der Tragödie schrittweise einzugestehen. Unter normalen Umständen würden derartige "Vorfälle" wohl weitgehend vertuscht.

Doch die Reaktion von US-General Stanley McChrystal, dem Oberkommandierenden aller Isaf-Soldaten, kam für die Deutschen völlig überraschend. Noch bevor das Ausmaß der Tragödie genau untersucht war, zeigte er sich "tief besorgt über das Leid, das diese Aktion unseren afghanischen Freunden bereitet haben könnte". Dann waren der Vier-Sterne-General und ein Nato-Untersuchungsteam sehr schnell zur Stelle, um festzustellen, dass es mindestens zwei Dutzend zivile Opfer geben habe.

In Berlin ist man jetzt der Ansicht, dass die US-Amerikaner von eigenen Massakern ablenken wollen. In Militärkreisen argwöhnt man, die deutschen Soldaten sollten aus Kunduz "hinausgeekelt" werden.

Der Grund für die ungewöhnliche Transparenz McChrystals könnte aber ein ganz anderer sein: Die USA erkennen, dass sie in Afghanistan auf verlorenem Posten stehen und den Krieg nur mit Unterstützung der Bevölkerung gewinnen können. Jedes Mal, wenn Unschuldige sterben, gewinnen die Taliban Sympathien. Die neue US-Strategie stellt deshalb die Zivilisten in den Mittelpunkt, auf die mehr Rücksicht genommen werden soll.

Freilich: Wie ernst es den USA damit ist, wird sich erst dann zeigen, wenn US-Soldaten mit dem Vorwurf konfrontiert sind, Unschuldige getötet zu haben.