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Tränen über Tibet: Ein Gottkönig und sein buddhistischer Pazifismus

Von Franz Alt

Politik

Schlüsselfigur des Konflikts zwischen Tibet und China ist der Dalai Lama. | Der oberste Tibeter über Freundlichkeit, Frieden und Freiheit. | Baden-Baden. Was verursacht die Anziehungskraft des Dalai Lama auf Tibeter und Nicht-Tibeter in der ganzen Welt? Was macht diesen inzwischen 72-Jährigen bei Umfragen zum "sympathischsten Menschen der Welt"? Was ist sein Geheimnis?


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Flughafen Berlin-Tegel. In 30 Minuten soll seine Maschine nach Neu Delhi fliegen. Doch seelenruhig setzt sich der Dalai Lama und gibt ein Interview. Die ihn begleitenden Mönche und sein Dolmetscher schauen nervös auf die Uhr. "Wir haben 30 Minuten Zeit", sagt der Dalai Lama. Nach genau 30 Minuten steht er lächelnd auf. Seine Begleiter sind entsetzt, denn der Kleinbus, der ihn zum wartenden Flugzeug bringen sollte, ist bereits weggefahren. "Das macht gar nichts", sagt der Dalai Lama und stürmt aus dem VIP-Raum, rennt mit wehendem Mönchsgewand über den Flughafen 300 Meter zu seinem Flugzeug, die gesamte Begleitung hinterher. Zwei Minuten später hebt das Flugzeug ab.

Was denkt der "Gottkönig" der Tibeter über all die Etiketten wie "Heiligkeit" und "Majestät"? "Das ist doch alles Unsinn. Ich bin ein einfacher Mönch."

Der Mann war vorgestern in Toronto, gestern in Wiesbaden und fliegt heute nach Washington oder Neu Delhi. Was macht dieser berühmte Flüchtling, wenn er endlich allein in seinem Hotelzimmer ist? "Ich mache als erstes die Rollläden runter, um in Ruhe meditieren zu können." Er meditiert jeden Tag vier Stunden und steht dafür jeden Morgen um halb vier auf. Deshalb verabschiedet er sich auch meist am Vorabend nach einem Vortrag schon zwischen 21 und 22 Uhr. Länger bleibt er grundsätzlich nicht, egal ob ein König, Präsident oder Journalisten noch gerne mit ihm gesprochen hätten. Zur Meditation sitzt er meist im Unterhemd auf seinem Hotelbett. Frühstücken will er allein in seinem Zimmer. In seinem Exil, im nordindischen Dharamsala, trainiert er vor dem Frühstück gerne auf einem Laufband. "Auch beim Sport kann man gut meditieren."

Weisheit und Wissen

Bei aller Freundlichkeit schreckt der Dalai Lama vor radikalen Thesen nicht zurück. "Ohne Menschen ginge es der Erde besser", und fügt lächelnd hinzu: "Aber ich bin Optimist. Wir Menschen können uns ändern." "Mitgefühl mit allen Lebewesen", sagt der Dalai Lama, sei der Kern des Buddhismus. Der oberste Tibeter ist wohl deshalb auch im Westen so populär, weil er seit seiner Flucht aus Tibet im Jahr 1959 konsequent Gewaltlosigkeit lehrt und lebt. Seit Jahrzehnten wird sein Volk von Chinas Besatzungsmacht unterdrückt - aber der gute Mensch aus Lhasa bleibt konsequent bei seinem buddhistischen Pazifismus. Tibet ist das religiöseste Volk der Welt. Aber wohl kein zweites Volk leidet so sehr unter Gewalt - seit bald sechs Jahrzehnten.

Trotz seiner Religiosität ist der Dalai Lama nicht weltfremd und interessiert sich für viele Gebiete: Er schätzt die Quantenphysik, die er sich oft vom deutschen Physiker Carl Friedrich von Weizsäcker erklären ließ. Spannender findet er seit einigen Jahren die Erkenntnisse der Neurobiologen. Es macht ihm erkennbar Spaß, Quantenphysikern, Neurobiologen oder Philosophen zu erklären, dass ihre neuesten Erkenntnisse sehr gut zu jahrtausendealten Erfahrungen der tibetisch-buddhistischen Glaubenswelt passen. "Wissenschaft und alte Weisheitslehren sind kein Gegensatz." Der Dalai Lama hört auf die Sprüche seines uralten Staatsorakels ebenso wie auf die Lehren der modernen Wissenschaft.

Was macht den Reiz des Buddhismus im Westen aus? "Wissenschaft ist wichtig, aber Weisheit ist wichtiger", sagte der Dalai Lama einmal vor 2000 Studenten in Tübingen. Ethische Reife, geistige Ruhe, intuitives Wissen - diese buddhistischen Werte sind heute im westlichen Rationalismus weitgehend verschüttet. "Aber Mitgefühl und Ethik sind für die Menschenwerdung unverzichtbar. Nur durch Mitgefühl können wir uns vom Leiden befreien", lehrt der oberste Buddhist.

Der Dalai Lama ist tolerant. Wenn man ihn fragt, ob es ihn störe, dass einige junge Tibeter zum christlichen Glauben übergetreten sind, antwortet er: "Warum soll mich das stören? Wichtig ist doch nicht, welcher Religion ein Mensch angehört. Wichtig ist, dass er glücklich ist. Wenn junge Tibeter zum Christentum übertreten und glücklich dabei sind, dann freue ich mich mit ihnen."

Der XIV. Dalai Lama blieb der Bauernjunge aus der osttibetischen Provinz Amdo, wo er mit zwei Jahren als Wiedergeburt des XIII. Dalai Lama entdeckt wurde. Kritiker sagen, er sei naiv. Und was sagt er seinen Kritikern? "Die haben recht." Was aber sagt er über seine chinesischen Feinde? "Feinde soll man lieben, wie es Jesus in der Bergpredigt vorgeschlagen hat. Das ist ein kluger Vorschlag. Denn von seinen Feinden kann man am meisten lernen. Ich will auch den Chinesen helfen, eine harmonische Gesellschaft im Sinne von Konfuzius aufzubauen."

"Tibet wird frei sein"

Auf die Frage, was ihn trotz aller Leiden seines Volkes optimistisch stimme, sagt der lebensfrohe Asket: "Eines Tages wird Tibet frei sein. Wir wollen der ganzen Welt einen neuen, friedlichen Weg zur Freiheit zeigen." Er hofft auf Veränderungen in Chinas junger Generation. "Der Schlüssel zur Lösung der Tibet-Frage liegt bei Chinas Jugend."

Der Mann will niemanden bekehren. Er will aber anregen, über mehr Menschlichkeit und Gewaltlosigkeit nachzudenken: "Das 20. Jahrhundert war ein Jahrhundert der Gewalt. Es liegt doch an uns allen, aus dem 21. Jahrhundert ein Jahrhundert des Friedens und der Gerechtigkeit zu machen." Der Weg dahin scheint gar nicht so schwer aus buddhistischer Sicht. Der Dalai Lama skizziert ihn so: "Erst wenn wir Frieden in uns haben, können wir einen Beitrag zum Weltfrieden leisten. Das kann jede und jeder."

Auch diese These erscheint manchem seiner westlichen Zuhörer naiv. Aber gibt es eine Alternative? Die Bergpredigt Jesu mit ihren Seligpreisungen der "Friedenstifter" und der Forderung nach "Feindesliebe" ist nicht weniger naiv. "Die Bergpredigt ist ein Überlebensprogramm der Menschheit wie der achtfache Pfad Buddhas", sagt der Dalai Lama.

Was aber, wenn in Zukunft die Jugend Tibets ihre Heimat mit Gewalt befreien will, weil nach ihrer Ansicht 60 Jahre Gewaltfreiheit nichts außer Leid und Unterdrückung gebracht haben? "Dann", sagt der Dalai Lama mit großer Bestimmtheit, "dann werde ich von allen meinen politischen Ämtern zurücktreten. Dann lebe ich wieder als einfacher buddhistischer Mönch, was ich ja schon immer tue. Aber ich werde mich dann aus der Öffentlichkeit zurückziehen. Ich verstehe die ungeduldige junge Generation. Aber als Mönch bin ich davon überzeugt, dass Gewalt niemals zu wirklichen Lösungen führt. Der Irak beweist es doch jeden Tag. Vorbildlich für eine erfolgreiche, gewaltfreie Politik war die friedliche Revolution in Europa 1989. Warum soll in China nicht auch möglich sein, was in Deutschland 1989 so erfolgreich funktionierte?"

Seiten 8 und 14