Grünen-Chef vor Wiederwahl. | Kernanliegen der Grünen: Bildung, Einwanderung und Klimapolitik. | Wahlziel Platz drei. | "Wiener Zeitung": Stichwort Mai 1968: 40 Jahre danach wird über die negativen und positiven Seiten diskutiert. Sie haben diese Zeit als einziger Parteiführer persönlich miterlebt, damals waren Sie 24 Jahre alt und wissenschaftliche Hilfskraft an der Uni Innsbruck - was waren Ihre Eindrücke?
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Alexander Van der Bellen: Ich habe diese Zeit als kulturellen Umbruch erlebt, als teilweise zwar unverständliche, aber interessante Alternative zur österreichischen "Gamsbartkultur". Es gab viel Neues, man hat sich interessiert, was in Berlin oder Paris geschieht. Persönlich allerdings habe ich mich für diesen soziologischen Kauderwelsch nie interessiert. Auf der Universität haben wir die alten Funktionäre abgewählt und den Assistentenverband neugegründet, dessen Vorsitzender ich 1969 wurde. Das war eine gute Schule für mich, weil Mitbestimmung musste erst erkämpft werden.
Alt-68er blicken häufig mit einer Mischung aus Mitleid und Entsetzen auf die angeblich mangelnde revolutionäre Begeisterung der heutigen Jugend herab. Wie ist Ihr Bild von den Jungen?
Ganz anders. Ich habe ja Jahrzehnte auf der Universität verbracht mit dem Privileg, ständig neue Generationen junger Menschen erleben zu können. 1968 war eine andere Zeit: Heute gibt es kein Vietnam, kein Gefühl, dass alles stehen geblieben ist, keine völlig unaufgearbeitete Nazi-Zeit. Aber natürlich wünscht man sich manchmal ein wenig mehr Keckheit, fundiert sollte sie jedoch schon sein.
Dieser Wunsch ist zweischneidig: Immerhin könnten Sie als Grünen-Chef erstes Opfer dieser Sehnsucht sein.
Das ist schon gut möglich, aber was kann ich dafür, dass ich keinen Gegenkandidaten am Bundeskongress am Sonntag in Alpbach habe? So unzufrieden kann demnach die Basis mit mir nicht sein.
Mit welchem Ergebnis rechnen Sie bei ihrer Wiederwahl zum Bundessprecher?
Erfahrungsgemäß pendelt die Zustimmungsrate immer so um die 80 Prozent, mal darunter, mal darüber. Ich nehme das relativ stressfrei zur Kenntnis.
In Österreich fehlt es an politischen Visionen, die darüber hinausgehen, an der Macht zu bleiben beziehungsweise an sie zu gelangen. Rot-Grün hat - obwohl nie realisiert - irgendwie bereits die Patina des Vergangenen, Schwarz-Blau will kaum einer wiederhaben, welche politische Leitidee Rot-Blau haben könnte, ist vielen ein Rätsel. Bleibt die ständige Wiederkehr der ewigen großen Koalition oder Schwarz-Grün. Verbinden Sie eine politische Vision mit Schwarz-Grün?
Diese Form der großen Koalition haben alle Beobachter satt. Die Kernfrage wird sein, ob es nach der Wahl eine Mehrheit mit der FPÖ oder den Grünen geben wird. Tatsächlich liebäugeln manche in der SPÖ mit den Blauen, die Wählerschichten überschneiden sich auch teilweise.
Die Grünen scheitern in Wahlkämpfen oft, ihre Ziele in griffige Botschaften zu übersetzen. Wie würden Sie die Kernanliegen Ihrer Partei kurz und bündig auf den Punkt bringen?
Teilweise gebe ich Ihnen schon recht, wir sind immer schon eine etwas kopflastige Partei gewesen. Im Kern geht es uns um drei zentrale Anliegen: Mehr Geld für Kindergärten, Schulen, Unis und Fachhochschulen für eine bessere Bildung und Ausbildung; wir brauchen eine positive Einstellung zum Thema Einwanderung - der Wirtschaftsflügel der ÖVP hat das begriffen, der Rest hinkt leider hinterher; und Klimaschutz ist kein Problem, sondern eine Chance, um auch neue Märkte zu erobern. Hier habe ich bei der SPÖ seit Hainburg alle Hoffnungen aufgegeben, bei der ÖVP beginnen das manche langsam zu verstehen.
Derzeit richten sich SPÖ und Grüne via Medien allerlei Unhöflichkeiten aus. Ist dieser Streit für Sie politisch substanziell?
In gewisser Weise ja. Es gibt nach wie vor eine Arroganz der SPÖ gegenüber den Grünen, die geht mir schon auf die Nerven. Wir liegen auch mit der ÖVP in fast allen Bereichen heftig im Clinch, aber die ergreift wenigstens die Chancen zu einer Zusammenarbeit, etwa in Oberösterreich, Bregenz und zuletzt in Graz.
Gibt es eine angemessene Reaktion der Politik auf die Tragödie in Amstetten?
Bei mir überwiegt im Moment die Fassungslosigkeit. Verbrechen, auch solche, gibt es überall, aber dass 24 Jahre niemand etwas bemerkt, ist eigenartig - ich verstehe das noch nicht. Die Kinder brauchen jetzte eine neue Identität, müssen eine solche neu aufbauen. Ich hoffe, das gelingt auch. Allerdings wirken skandalöse Medienberichte mit Fotos und vollem Namen der Kinder genau in die gegenteilige Richtung.
Ihr Ziel für die kommenden Wahlen?
Platz drei verteidigen - und trotz aller Unkenrufe bin ich zuversichtlich, dass das gelingen kann. Ausländerfeindlichkeit ist kein Rezept für die Zukunft.