Zum Hauptinhalt springen

Traum vom sorglosen Ruhestand geplatzt

Von Jean-Michel Stoullig

Wirtschaft

"Wann werde ich in Rente gehen können?", lautet die bange Frage, die sich viele US-Bürger in diesen Tagen der Bilanzskandale und Börsenturbulenzen stellen. Anders als in Deutschland, wo die staatliche Rentenversicherung immer noch den Großteil der Altersversorgung übernimmt, sind Arbeitnehmer in den Vereinigten Staaten sehr stark auf zusätzliche Vorsorge für das Rentenalter angewiesen.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 22 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Ein Großteil von ihnen hat in Fonds angelegt, um den Ruhestand abzusichern. Obwohl in den vergangenen Tagen die Signale von der Wall Street wieder etwas positiver waren, sind die Ängste weiterhin groß. Viele besonders ältere Arbeitnehmer sehen sich mit der Aussicht konfrontiert, mit der Minimalrente aus der staatlichen Sozialversicherung leben zu müssen.

"Ich habe fast alles verloren", sagt Michelle, eine 57-jährige Angestellte, die ihren Nachnamen lieber nicht nennen will. Aus der Sozialversicherung würde sie nach jetzigem Stand ganze 700 Dollar monatlich erhalten - das reiche gerade mal, die Hypothek auf ihr Haus abzuzahlen. "Ich werde arbeiten müssen, bis ich 80 bin oder so", stöhnt sie.

Die staatliche Rente allein bietet den meisten US-Bürgern keine ausreichende Absicherung. Das Niveau der gesetzlichen Rente liegt derzeit bei 43% des letzten Lohns und soll bis zum Jahr 2030 auf nur noch 37% sinken. Nach Angaben von Experten braucht aber ein Rentner zum Leben im Schnitt 75% des früheren Einkommens. Hinzu kommt, dass das staatliche Rentensystem vom Kollaps bedroht ist: Nach einem Regierungsbericht vom März werden die Reserven der gesetzlichen Rentenkasse bis 2041 aufgebraucht sein.

Mehr als die Hälfte der Alterseinkünfte in den USA stammen aus privater und betrieblicher Vorsorge. Betriebspensionen werden schon seit zwei Jahrzehnten steuerlich gefördert und sind deshalb eine sehr verbreitete Altersvorsorge. Im Rahmen des 401-(k)-Plans, benannt nach der entsprechenden Vorschrift im Steuerrecht, können Arbeitnehmer bis zu 11.000 Dollar oder maximal 15% des jährlichen Bruttoeinkommens pro Jahr steuerfrei in den Pensionsfonds zahlen. Einige Arbeitgeber leisten für ihre Beschäftigten einen zusätzlichen Beitrag. Außerhalb der Betriebsrenten gibt es als ebenfalls steuerlich gefördertes System die so genannten Individual Retirement Accounts (IRA) als individuelle Form der Vorsorge.

Für die Altersvorsorge gibt es in den USA eine breite Palette von Fonds, vom konservativen Modell mit festgelegter Höhe der Auszahlungen bis zu risikoreichen Anlagen. Beim beliebten 401-(k)-Modell fließt das Geld in einen offenen Pensionsfonds - die Rentenhöhe richtet sich also nach der Performance. Kein Wunder also, dass die derzeitigen Turbulenzen an den Finanzmärkten Erschütterungen quer durch die US-Gesellschaft auslösen. Die Medien überschlagen sich denn auch mit guten Ratschlägen an die verunsicherten Beschäftigen: Empfohlen wird unter anderem, das im 401-(k)-Fonds gebliebene Geld herauszunehmen und in so genannten Obligationen mit festem Zinssatz anzulegen, günstige Hypotheken auszuhandeln oder das Haus zu verkaufen, um in einen preiswerteren Bundesstaat umzuziehen.

"Älter am Arbeitsplatz werden als bislang geplant" lautet jedoch die Notlösung, über die derzeit viele Arbeitnehmer nachdenken. Ein gesetzliches Rentenalter gibt es in den Vereinigten Staaten im Gegensatz zu Deutschland nicht. Nicht gerade einen Beitrag zur Beruhigung der Nerven leistete unterdessen das Magazin "Time" mit seiner Frage: "Werden Sie eines Tages in Rente gehen können?". Auch der Trost, den die Zeitschrift bereithielt, war von eher zweifelhafter Qualität: "In der gesamten Geschichte der Menschheit haben die Leute immer im letzten Drittel ihres Lebens gearbeitet, außer in den vergangenen Jahrzehnten."