Zum Hauptinhalt springen

Träumer und Grübler

Von Hermann Schlösser

Reflexionen
© Fotolia/tamagocha/scusi /WZ Montage)

William Shakespeare und Miguel de Cervantes sind vor 400 Jahren gestorben. Ihre Figuren Hamlet und Don Quijote sind aber nach wie vor lebendig.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 9 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Der 23. April ist der Tag des Heiligen Georg, und in katholischen Regionen wird dieser heldenhafte Ritter und Drachentöter nach wie vor mit Reiterprozessionen und Glockengeläut geehrt. Auf eigene Weise feiern die Bewohner der selbstbewussten spanischen Region Katalonien ihren Schutzheiligen Sant Jordi: Sie schenken einander am 23. April nicht nur Blumen, sondern auch Bücher.

Diese Geste des Bücherschenkens veranlasste die UNESCO im Jahr 1995, den "Welttag des Buches und des Urheberrechts" auf den Georgstag zu legen. Doch fand sich auch ein guter weltlicher Grund für die Datumswahl: Am 23. April 1616 starb in Stratford-upon-Avon der Dramatiker William Shakespeare, und in Madrid ging das Leben des Roman-ciers Miguel de Cervantes Saavedra zu Ende. Wer also eher an die Literatur glaubt als an die Reli-
gion, kann den Tag des Heiligen Georg in einen William- oder Miguel-Tag verwandeln. Heuer besteht zu einer solch profanen Heiligenverehrung sogar noch mehr Anlass als sonst, denn der Todestag dieser beiden Hauptfiguren der Literaturgeschichte jährt sich zum vierhundertsten Mal.

Freilich ist zur Herstellung dieses Doppelgedenkens eine kleine Manipulation vonnöten. Denn Shakespeare und Cervantes sind zwar beide am 23. April gestorben, aber dennoch nicht am selben Tag. Im anglikanischen England galt damals noch der alte, nach Julius Caesar benannte, julianische Kalender, während im katholischen Spanien schon nach dem neuen, gregorianischen Kalender datiert wurde, den Papst Gregor XIII. 1582 eingeführt hatte. Gregorianisch gerechnet, wäre Shakespeare erst am 3. Mai gestorben, zehn Tage nach Cervantes. Aber wer in der Geschichte nach Gründen zum Feiern sucht, darf es mit den Fakten nicht allzu genau nehmen, das ist allgemein bekannt, und braucht uns hier nicht weiter zu beschäftigen.

Kontrastreiche Literatur

Interessanter ist die Frage, was Cervantes und Shakespeare außer ihrem Todesdatum und dem so vagen wie unbestreitbaren Etikett der "Größe" noch gemeinsam haben. Auf den ersten Blick nicht allzu viel, denn der eine ist für seine spanische Prosa berühmt, der andere für seine englischen Dramen. Cervantes, 1547 geboren, war ein studierter Theologe und belesener Humanist, aber zugleich auch ein Soldat und weit gereister Abenteurer, der nicht nur die Studierstube aus eigenem Erleben kannte, sondern auch die Schlachtfelder, die Weltmeere und die Gefängnisse. Shakespeare, Jahrgang 1564, war anscheinend ein eher sesshafter Mann, der in der Provinzstadt Stratford eine gediegene Schulbildung erwarb, dann in der Metropole London höchst erfolgreich sein Globe Theatre führte und schließlich nach Stratford zurückkehrte.

Und doch verbindet diese so unterschiedlichen Geister ein grundlegendes Stil- und Denkprinzip, das ihrer gemeinsamen Epoche entspringt, aber auch heute noch (oder wieder) zeitgemäß anmutet: Cervantes und Shakespeare beherrschen beide meisterhaft die gehobene Stilebene, die nach den Vorgaben der antiken Rhetorik gebildet ist. Aber sie konfrontieren diese Würdeform der Sprache immer wieder mit der respektlos-witzigen, derben, zuweilen auch obszönen Ausdrucksweise des Volkes und des Alltags. So entstehen kontrastreiche Gebilde, die gewiss widerspenstiger und interessanter sind als allzu reine Schönheiten.

Cervantes und Shakespeare suchen also, kurz gesagt, nicht nach Harmonie, sie sind fasziniert von der "Eintracht in der Zwietracht". In dieser Formel aus Shakespeares "Sommernachtstraum" klingt der alte naturphilosophische Begriff der "Concordia dis- cors" an, aber interessanter als das theoretische Herkommen dieses Denkens ist seine ästhetische Auswirkung in Shakespeares und Cervantes’ bunten, vielfältigen, überbordend widersprüchlichen Kunstwerken.

Die Shakespeare-Frage

Schauen wir uns das ein wenig genauer an, und beginnen wir mit Shakespeare. Die Diskrepanz zwischen dessen merkwürdig ereignisarmem Leben und seiner ungemein welthaltigen Dichtung gehört zu den großen Rätseln der Literaturgeschichte. Mehrmals wurde vermutet, William Shakespeare sei gar nicht der Verfasser der großartigen Dramen, die unter seinem Namen bekannt sind. Stattdessen wurden andere Autoren ins Spiel gebracht, von denen vermutet wurde, dass sie - aus unterschiedlichen Gründen - anonym bleiben wollten, weshalb sie dem Theaterdirektor ihre Stücke zuschrieben.

Die akademische Anglistik lehnt derartige Erwägungen als wissenschaftlich unbegründet ab, was sie aber keineswegs zum Verstummen bringt. Das katholische Herrschaftsprinzip "Roma locuta - causa finita" gilt in der Literaturgeschichte nicht, und deshalb wird um die Shakespeare-Frage sicherlich weiter gestritten werden. Bis zum restlos überzeugenden Beweis des Gegenteils spricht allerdings auch nichts dagegen, dem Stratforder Gentleman William Shakespeare zuzutrauen, dass er seine Dramen selbst geschrieben hat.

Aber wie auch immer - sicher ist, dass diese Werke noch immer weltweit zu den meistgespielten Theaterstücken gehören. Und warum sollte das auch anders sein? Eine anmutig verspielte Komödie wie "Der Sommernachtstraum", in der die Wahnsinnigen, die Verliebten und die Dichter aus demselben Stoff gebildet werden, vermag auch heute noch die Gemüter zu erheitern. Und düstere Tragödien wie die vom zornigen "König Lear", der den Fehler machte, alt zu werden, bevor er klug war, oder vom ehrgeizigen Unhold "Richard III.", der erst die Macht an sich reißt und sie dann wieder verliert, sodass er schließlich sogar sein Königreich für ein Pferd zur Flucht eintauschen möchte, bieten noch immer die Vorlagen für wirkungsvolle Inszenierungen. Überdies geben Shakespeares Dramen Anlass zum Nachdenken, denn sie suchen Antworten auf Fragen, die uns noch geradeso angehen wie die Menschen des 16. Jahrhunderts: Wie kommt es zu Machtmissbrauch und Verbrechen? Warum gibt es Menschen, deren Ehrgeiz darin besteht, Böses zu tun? Wie unterscheidet man die Lüge von der Wahrheit? Und dergleichen mehr.

Dennoch entstehen Theaterstücke ja nicht aus Fragen, sondern aus dramatischen Konflikten, die von Akteuren auf der Bühne ausgetragen werden. Gerade der Theaterpraktiker Shakespeare hatte ein untrügliches Gespür für wirkungsvolle Rollen. (Das könnte man, nebenbei bemerkt, als Argument dafür ins Feld führen, dass er seine Dramen selbst geschrieben hat.) Seine Stücke sind gespickt mit witzigen, berührenden, mitreißenden Auftritten, in denen gute Schauspieler und Schauspielerinnen zeigen können, wozu sie fähig sind. Viele Shakespeare-Rollen bleiben im Gedächtnis, als ob sie lebendige Menschen wären: der feiste Angeber Falstaff, die lieblich sterbende Ophelia, die verliebten Kinder Romeo und Julia, der weise resignierende Zauberer Prospero und manche mehr.

Geflügelte Hamlet-Worte

Ein Shakespear’scher Charakter überragt aber wohl doch alle anderen, und das ist Hamlet, der Prinz von Dänemark. Auch wer seine Tragödie noch nie auf der Bühne gesehen hat, wird schon einmal gehört haben, dass "im Staate Dänemark" "etwas faul" sei, oder dass es bei einer bestimmten Frage um "Sein oder Nichtsein" gehe, dass "Reifsein alles" und "der Rest Schweigen" sei.

In solch "geflügelten Worten" lagern sich weltliterarische Texte im Alltagsbewusstsein ab, und es trägt durchaus zum Verständnis eines Dramas bei, wenn man auf der Bühne wiederhört, was man in ganz anderem Kontext zuvor schon in der Zeitung gelesen hat.

Was aber ist faul im Staate Dänemark? Hamlet, der in Wittenberg studiert, kehrt an den dänischen Königshof zurück, weil sein Vater gestorben ist, und seine Mutter sehr bald nach dem Tod den Bruder des Verstorbenen geheiratet hat. Hamlet vermutet, dass sein Vater vom neuen Herrscherpaar umgebracht wurde, und eine nächtliche Erscheinung bestätigt seinen Verdacht: Der tote Vater selbst tritt als Geist auf, berichtet von seiner Ermordung und bittet seinen Sohn, das Verbrechen zu rächen, aber die Mutter dabei zu schonen.

Hamlet gelobt Rache, zögert aber jede Aktion durch ständiges Grübeln und wunderliches Betragen hinaus. Es gehört zu den großen Künsten Shakespeares, dass er, als Meister der Widersprüche, imstande ist, ein spannendes Rachedrama um einen Haupthelden herum zu bauen, der vor allem darüber nachdenkt, warum er sich nicht zu einer Tat aufraffen kann. Und so scharfsinnig Hamlet auch räsoniert, so rätselhaft bleibt doch seine Passivität für alle anderen.

Es ist auch keineswegs gesagt, dass er sich selbst ganz und gar versteht. Aber gerade diese Unergründlichkeit macht die Rolle zur Herausforderung für Darsteller und Regisseure: Die berühmtesten und begabtesten Schauspieler (und seit dem 19. Jahrhundert auch zunehmend Schauspielerinnen) haben sich mit der Rolle des geheimnisvollen Prinzen beschäftigt, und damit eine der markantesten Theatergestalten kreiert, die unter anderem jene berühmte "To be or not to be"-Überlegung über das Weiterleben nach dem Tod deklamiert, in der es in Erich Frieds Übersetzung unter anderem heißt:

"[ . . .] Wer trüg die Last,

Und stöhnt’ und schwitzt’ unter der Müh des Lebens,

Wenn nicht das Graun vor etwas nach dem Tod,

Dem unentdeckten Land, aus dem kein Wandrer

Zurückkommt, unsern Willen ratlos machte,

So dass wir lieber unsre Übel tragen,

Als fliehn zu anderen, die wir nicht kennen?

So macht Bedenken jeden von uns feige" [. . .]

"Thus conscience does make cowards of us all" - so heißt der letzte Satz im englischen Original. Aber Hamlet ist nicht nur durch zitierfähige Sätze berühmt, sondern auch durch seine tragische Handlungshemmung, mit der sich viele Individuen, aber auch ganze Nationalkulturen identifizieren konnten. Wie das 2014 erschienene "Hamlet Handbuch" ausführlich dokumentiert, bot der melancholische Prinz, der die Niederträchtigkeit des Herrschers durchschauen, aber nicht bekämpfen kann, gerade den Intellektuellen ein bedenkenswertes Role Model für die eigene Lage.

So brachte der Freiheitsdichter Ferdinand Freiligrath die gedrückte Stimmung Deutschlands 1844 auf die Formel "Deutschland ist Hamlet", und Vergleichbares findet sich auch in anderen Sprachen. Wir haben es beim "Hamlet" also mit einem Kunstwerk zu tun, dessen Wirkungen weit über den theatralischen Raum hinausreichen. Besseres lässt sich über ein Stück Literatur kaum sagen.

Der Dramatiker Shakespeare hat auch formvollendete Sonette geschrieben, aber ein nennenswerter Prosatext aus seiner Feder ist nicht bekannt. Cervantes hingegen versuchte sich zwar gelegentlich als Dramatiker, ist aber - schon seinen Zeitgenossen und erst recht der Nachwelt - vor allem als Prosaist ein Begriff. Seine "Exemplarischen Novellen" ("Novelas ejemplares") gelten bis heute als Musterbeispiele der Gattung Novelle, und dass sein "El Ingenioso Hidalgo Don Quixote de la Mancha" den Beginn der modernen Romanliteratur markiert, ist in der Literaturwissenschaft unumstritten: Teils lustig, teils tiefsinnig und durchwegs höchst kunstvoll bereitet der Roman so gut wie alle Erzähltechniken der Moderne auf seine Weise vor.

Ritterlicher Zweikampf

Der Romanist Hans-Jörg Neuschäfer hat in einem instruktiven Aufsatz über das Buch angemerkt: "In der Tat ist die Meisterschaft, mit der Cervantes all das bereits ins Spiel bringt, was der heutigen Literarästhetik teuer ist - Autoreflexivität, Intertextualität, Dialogizität, ironisch gebrochene Beglaubigungsstrategien, komplexe Erzähltechniken -, schier unglaublich."

Wenigstens ein Kunststück des eleganten literarischen Spielers Cervantes sei kurz vorgestellt: Der Erzähler arbeitet mit der Fiktion, er habe die Geschichte des Don Quijote nicht erfunden, sondern in alten Schriften gefunden. Das ist die von Neuschäfer erwähnte "Beglaubigungsstrategie".

Die ironische Brechung derselben geschieht im achten Kapitel des ersten Buchs: Die angebliche Quelle bricht mitten in der Schilderung eines spannenden ritterlichen Zweikampfs ab, und wir erfahren zunächst nicht, wie er ausgeht. Stattdessen berichtet der Erzähler, dass er sich auf die Suche nach einer zweiten, vollständigeren Quelle begeben musste. Auf einem Markt in Toledo wird er fündig: Das ins Spanische übersetzte Manuskript des arabischen Gelehrten Cide Hamete Benengeli (erfunden von Cervantes) taucht auf und gibt Auskunft darüber, wie der Zweikampf ausgegangen ist.

Doch wird man dem umfangreichen Buch nicht gerecht, wenn man es nur als literarische Trickkiste auffasst. Denn so komplex und interessant die zerklüftete Form des Ganzen ist, so wirkungsvoll ist doch auch die genial einfache Handlung, die das komplizierte Buch strukturiert: Ein armer Landedelmann, der zu viele romantische Ritterromane gelesen hat, beschließt, ein fahrender Ritter zu werden. Er nimmt den Namen Don Quijote an, will die Bösen bestrafen, den Edlen beistehen und im Übrigen von seiner angebeteten Dame, Dulcinea von Toboso, schwärmen.

Da ein solches Verhalten zwar in Romanen weiterhin verherrlicht wird, aber längst nicht mehr in die Zeit passt, misslingen alle hochfahrenden Pläne. Don Quijote braucht sehr lange, bis er die Vergeblichkeit seiner ritterlichen Bemühungen erkennt. Erst ganz am Ende des umfangreichen Romans begreift er, dass er einem Wahn aufgesessen ist, und wird wieder der freundliche, vernünftige Mensch, der er vor seiner Lesesucht gewesen ist. Insofern ist Don Quijote unter anderem auch, wie Neuschäfer schreibt, "das erste Medienopfer der Neuzeit".

Da ein edler Ritter auch einen Knappen braucht, wird Don Quijote von seinem Diener Sancho Pansa begleitet. Der hagere Don auf seinem dürren Pferd Rosinante und der rundliche Diener Sancho auf seinem kleinen Esel bilden ein so ungleiches wie unzertrennliches Paar. Und es steht keineswegs fest, wer von den beiden der Überlegene ist. Der weltfremde Don Quijote bedarf durchaus der Unterstützung durch den realistischen Diener. Andererseits erweitert sich der Horizont des biederen Bauern Sancho erheblich durch das dauernde Zusammensein mit dem fantasievollen Träumer Quijote. Also sind sie bei aller Gegensätzlichkeit aufeinander angewiesen, worin sich wiederum das alte Prinzip der "Concordia discors" spiegelt.

Weltweit populär

Vor allem hat Cervantes aber zwei unsterbliche literarische Gestalten geschaffen, die sozusagen aus dem ursprünglichen Text hinaus geritten sind und sich auf zahllosen Bildern (von Grandville bis Picasso), in Opern, symphonischen Dichtungen und Filmen, und schließlich im weltweit populären Musical "Der Mann von La Mancha" verewigt haben. Man muss den Roman von Cervantes nicht gelesen haben, um Don Quijote und Sancho Pansa zu kennen. Diese Bekanntheit jenseits des Textes ist aber der größte Erfolg, der einer literarischen Figur widerfahren kann.

Der Grübler Hamlet, der Träumer Don Quijote haben also bei allen Unterschieden eines gemeinsam: Sie sind Kunstfiguren, die ihre Mit- und Nachwelt nachhaltig beschäftigen, haben also ihren festen Platz im unerschöpflichen Bild- und Assoziationsvorrat der Weltliteratur. Es ist auch nach 400 Jahren noch schön, ihnen zu begegnen - selbst wenn das all jenen, die sich im sogenannten Hier und Jetzt völlig zu Hause fühlen, als pure Don Quijotterie erscheinen mag.

Literatur:

William Shakespeare: Hamlet. Deutsch von Erich Fried. Wagenbach Verlag, Berlin 2014 (der Band enthält auch "Othello").

Miguel De Cervantes: Der geistvolle Hidalgo Don Quijote von der Mancha. Deutsch von Susanne Lange. 2 Bände, Hanser Verlag, München 2008.

Peter W. Marx (Hrsg.): Hamlet Handbuch. Stoffe, Aneignungen, Deutungen. Metzler Verlag, Stuttgart 2014.

Hans-Jörg Neuschäfer: Cervantes, Don Quijote. In: Reinhard Brandt (Hrsg.): Meisterwerke der Literatur. Von Homer bis Musil. Reclam Verlag, Leipzig 2001, S. 108-126.

Siehe auch online das Shakespeare-Dossier in der "Wiener Zeitung" - unter: www.wienerzeitung.at/shakespeare/

Hermann Schlösser, geboren 1953, ist Literaturwissenschafter und Redakteur bei der "extra"- Beilage.