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Irak, Afghanistan, Nahost, gar nicht erst zu Reden von Afrika: Die traurige Realität verführt zur Flucht in eine angenehmere Welt. Im Sommer bietet sich da die Literatur an. | "Harry Potter and the Deathly Hallows" hat voriges Wochenende auch bei uns im Haus groß Einzug gehalten, alle 759 Seiten, und zwar gleich zwei Exemplare davon, die sich meine Frau und meine drei Töchter teilen. Ich mache nicht mit, aber nur, weil ich mich diesen Sommer ganz Anthony Trollope verschrieben habe: Ich aale mich gerade in den 841 Seiten von "Can You Forgive Her?" - da bleiben dann bloß noch die 3643 Seiten der restlichen Palliser Romane.
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Wenn es so etwas wie einen Sommer der eskapistischen Literatur gibt: Das ist er! Die Nachrichten aus der realen Welt sind so trostlos, dass es ein Segen ist, sich ein bisschen in die imaginären Welten der Fiktion zurückziehen zu können.
Ein sehr weiser Mensch - meine Mutter - hat einmal gesagt, dass es sehr wichtig ist, Romane zu lesen, weil die Menschen sonst nicht wüssten, wie sie in heiklen Situationen reagieren sollen. In Angelegenheiten des Herzens würden sie nämlich ohne die Lektüre von Romanen, ohne den inneren Kampf großer Charaktere studiert zu haben, auf unlösbare Probleme stoßen.
Ein Vorteil von Fernreisen ist: Sie bescheren dem Reisenden so viel Lesezeit, auch und besonders für diese großen, dicken englischen Romane. Gibt es etwas Schöneres als am Beginn einer langen Reise den Sicherheitsgurt zu schließen und ein dickes Buch zu öffnen?
Ich habe viel Zeit in anderen Ländern verbracht und in Städten wie Bagdad, Basra und Beirut. Ich habe die Machenschaften der Milizen dort aufmerksam beobachtet und mir mit der Bevölkerung Sorgen gemacht. Nicht weniger habe ich aber gleichzeitig mit Dorothea Brooke mitgefiebert, der unvergesslichen Heldin aus George Eliots "Middlemarch".
Die Frauenfiguren machen die englischen Romane aus dem 19. Jahrhundert heute so unwiderstehlich. Die Männer sind Eiszapfen daneben. Ihre tieferen Gefühle sind eingefroren und beginnen erst in den letzten Kapiteln zu schmelzen, meist gerade noch rechtzeitig, um das Herz der Geliebten zu erobern.
Die leidenschaftlich Suchenden in diesen Romanen, das sind die Frauen. Sie verkörpern mehr als die Männer den europäischen Aufbruch zu Gedankenfreiheit und Unabhängigkeit. Die arrangierten Ehen ihrer sozialen Klasse und die bequemen Annehmlichkeiten lehnen sie ab. Sie suchen nach tieferen Werten.
Wenn es dann endlich doch noch ein Happyend für sie gibt (und ein Happyend gibt es in diesen Büchern immer) ist das für den mitfühlenden Leser äußerst befriedigend. Im realen Leben gibt es so selten eine Gelegenheit, den Lohn der Tugend zu erleben.
Graham Greene, der dieser literarischen Tradition die Krone aufsetzte, brachte in "The Heart of the Matter" die britische Überzeugung auf den Punkt: Wenn es um Gefühle geht, ist weniger mehr.
Vor vielen Jahren hatte ich einmal einen Flug der Libyan Airways von Tripolis nach Benghazi zu überstehen. Man setzte mich zwischen zwei kräftige libysche Herren, die wohl der libysche Sicherheitsdienst beauftragt hatte, mich nicht aus den Augen zu lassen.
Zum Glück hatte ich ein gutes Buch dabei und mitten über der nordafrikanischen Wüste war ich bei einem besonders amüsanten Kapitel angelangt: Ich schüttelte mich vor Lachen, bis die Tränen kullerten. Angesichts meiner freudigen Erregung stieß mich einer meiner beiden Sitznachbarn in die Rippen. "Da geht's um Sex, nicht wahr?" Nein, sagte ich, um Sex geht es nicht. Um "Little Dorrit" (von Charles Dickens) handelte es sich nämlich bei dem so überaus befriedigenden Buch.
In diesem Sinne wünsche ich allen Lesern, ob Harryophile oder Trollopians, einen schönen Sommer.
Übersetzung: Hilde Weiss