Die traditionelle Familie verschwindet zwar nicht ganz, sie verliert aber ganz klar ihre Monopolstellung. Andere Beziehungsformen wie Ehen ohne Trauschein, Fortsetzungsfamilien, Lebensabschnittspartnerschaften, Leben mit mehreren Haushalten, Wochenend-Elternschaften oder das Alleinerziehen gewinnen sowohl an quantitativer Bedeutung als auch an gesellschaftlicher Akzeptanz.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 17 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
In Österreich heiratet man immer seltener und, wenn überhaupt, später; Frauen im Durchschnitt mit 27 Jahren, Männer mit 29. Bei einem Viertel der Paare sind bei der Hochzeit bereits Kinder vorhanden. Knapp die Hälfte der Erstgeborenen kommt zum Beispiel in Wien unehelich zur Welt. Nur bei 68 Prozent der Eheschließungen ist es für beide das "erste Mal", bei 12 Prozent geben sich beide bereits zum zweiten Mal das Jawort und bei einem Fünftel aller Ehen hat zumindest ein Partner bereits Eheerfahrung gesammelt. Von zehn derzeit bestehenden Ehen werden voraussichtlich vier geschieden werden. Sogar nach der Silberhochzeit werden noch 9 Prozent der Ehen geschieden, und selbst das Erreichen der Goldenen Hochzeit ist noch keine Garantie dafür, dass der Tod und nicht der Scheidungsrichter das langjährige Paar trennt.
Ohne Trauschein. Eine sehr beliebte Form des Zusammenlebens sind heute die nichtehelichen Lebensgemeinschaften. Sind diese Partnerschaften stabiler als die traditionelle Ehe? In früheren Jahren gab es den Begriff "in Sünde leben". Gemeint war damit eine außereheliche Lebensgemeinschaft, die in manchen Ländern sogar gesetzlich verboten war. Heute hält der Trend zu außerehelichen Gemeinschaften unvermindert an.
Begonnen hat dieser Trend in den 1960er Jahren. Er war Teil des Protests junger Menschen gegen das "Establishment" - womit auch die bürgerliche Familie gemeint war.
Seither ist das Zusammenleben ohne Trauschein in Österreich zur gesellschaftlich akzeptierten Normalität geworden. Die Akzeptanz nichtehelicher Lebensgemeinschaften ist heute gerade unter jenen am größten geworden, die die Protestbewegung von damals nur vom Hörensagen kennen.
In anderen Industrieländern sieht es ähnlich aus. In den USA machen außereheliche Partnerschaften mittlerweile sieben Prozent aller Lebensgemeinschaften aus.
In Schweden leben fast alle Eheleute schon vor der Eheschließung zusammen. Nichteheliche Partnerschaften machen dort bereits 30 Prozent sämtlicher Lebensgemeinschaften aus. Frankreich rangiert zwischen Schweden und den USA, in Großbritannien leben 75 Prozent der Verheirateten bereits vor der Ehe zusammen.
Heirat als Lebensziel? Österreicher liegen bei Befragungen zum Thema Heirat deutlich unter dem weltweiten Durchschnitt. Eine Online-Studie von AC Nielsen mit über 25.000 Befragten in 46 Ländern hat gezeigt, dass die Einstellung zur Heirat von Kultur und Glaube abhängig ist und sich somit von Land zu Land unterscheidet. Die Meinungen gehen zwischen Ost und West stark auseinander. Während 67 Prozent der Menschen im Asien-Pazifik-Raum die Heirat als eines ihrer Lebensziele angeben, ist die Heirat für nur knapp die Hälfte (47 Prozent) der Europäer ein erklärtes Ziel. Immerhin glauben 56 Prozent der Österreicher an eine Heirat fürs Leben, aber für nur 40 Prozent stellt Heiraten ein Lebensziel dar. Ein weiteres überraschendes Ergebnis der Studie zeigt, dass - allen Traditionen zum Trotz - Heirat für katholische Länder kein Lebensziel mehr ist.
In streng katholischen Ländern wie zum Beispiel Portugal betrachten 73 Prozent der Menschen das Konzept Heirat bereits als irrelevant, in Italien sind es 70 Prozent und in Spanien 68 Prozent. In Österreich sind es nur noch 44 Prozent, für die Heiraten das Lebensziel ist. Mehr als 80 Prozent der Österreicher finden Beziehungen ohne Trauschein genauso gut wie legalisierte Ehen.
Auf die Frage nach der Stabilität von Beziehungen ohne Trauschein als Ersatz für die Ehe gaben 83 Prozent der befragten Österreicher positive Antworten, Spanier und Belgier waren mit 85 Prozent bei den "Ja"-Antworten führend, Schlusslicht waren die Ungarn mit nur 51 Prozent.
Bequemlichkeit statt Bindung. Die wachsende Akzeptanz nichtehelicher Lebensgemeinschaften in den westlichen Industrieländern ist heute kein gesellschaftspolitischer Protest mehr wie noch vor 35 Jahren, sie ist vielmehr Ausdruck des modernen Zeitgeistes in Bezug auf die heiß begehrte persönliche Freiheit. Demnach soll die Ehe "freiheitsraubend" wirken, besonders für Frauen. In den USA wird in einem für den Unterricht an Hochschulen benutzten Textbuch sogar behauptet, dass "die Ehe negative Auswirkungen auf die geistige Gesundheit von Frauen hat" (Linda Waite und Maggie Gallagher: "The Case for Marriage", Seite 1).
Man könnte fast den Eindruck gewinnen, dass die Benutzung des Wortes "Ehe" für viele Menschen bereits peinlich ist. So änderte ein nationaler Eheberatungsdienst in Australien, der bisher "Marriage Guidance Council of Australia" hieß, seinen Namen auf "Relationships Australia". In Großbritannien heißt der frühere Eheberatungsdienst heute "Relate" (etwa: "Beziehungen").
Jene, die lieber ohne Trauschein zusammenleben, gehen die Bindung einer Ehe aus vielfältigen Gründen nicht ein. Sie wünschen sich zwar die Vorteile einer eheähnlichen Lebensgemeinschaft, aber bitte ohne die Verpflichtung zu Treue und Opferbereitschaft gegenüber einem Partner - und das womöglich auf Lebenszeit! Im Klartext bedeutet das, dass die Beziehung jederzeit ohne Unannehmlichkeiten beendet werden kann. Individuelle Rechte und Wünsche werden heute im allgemeinen Wertewandel stärker betont, Begriffe wie Pflicht und Verantwortung haben einen geringen Stellenwert. Ein neues "Grundrecht auf Egoismus" scheint zu dominieren und verursacht eine wahre "Inflation der persönlichen Ansprüche". Dieser Trend drückt sich auch in der zunehmenden Akzeptanz nichtehelicher Gemeinschaften aus. Man will auf die Bequemlichkeiten einer Beziehung mit gemeinsamer Haushaltsführung und -kasse keinesfalls verzichten, ebenso wenig auf die Verfügbarkeit des Partners für Unternehmungen und Sex. Wir leben ja schließlich im Zeitalter der individuellen Ansprüche. All das aber bitte ohne Bindung!
Sex als Recht auf Persönlichkeitsentfaltung? Sex nach Herzenslust zu haben gilt heute als neue "Freiheit". In den seltenen Fällen, in denen es jemand wagt, öffentlich für Sex nur in der Ehe einzutreten (z.B. in einer Talkshow) - werden solche Ansichten als veraltet, prüde, ja schlichtweg lächerlich dargestellt. Sex ist heute für viele die Vorbedingung bzw. Probe der Bereitschaft für eine mögliche emotionale zukünftige Bindung.
Es gibt gravierende Nachteile, die Paare ohne Trauschein auf sich nehmen, manchmal sogar unwissentlich. Es fehlt beim Zusammenleben ohne Trauschein jegliche Rechtssicherheit, die Ehepartner sehr wohl haben.
Ein Beispiel: Vor einem halben Jahr ist der Lebensgefährte von Renate K. verstorben.
Zu all dem Schmerz um seinen Tod erlebt Renate jetzt Folgendes: Sie muss aus der Wohnung ihres Lebensgefährten ausziehen. Und das, obwohl er ihr immer versichert hat, dass die Eigentumswohnung nach seinem Tod ihr gehören würde. Renate K. hatte die Wohnung, in der sie immerhin 15 Jahre glücklich mit ihm gelebt hat, liebevoll eingerichtet und dabei auf das Versprechen ihres Partners gebaut. Der Haken dabei: Er hat kein Testament gemacht. Erst beim Notar musste Renate erfahren, dass sie als Lebensgefährtin kein Erbrecht hat und leer ausgeht. Es wäre also wichtig gewesen, ein Testament zu hinterlassen, denn sonst hat der Lebensgefährte keinerlei Erbansprüche und auch keine Pflichtteilsansprüche. Eine Ausnahme bilden hier Mietwohnungen: Bei diesen hat der Lebensgefährte nach dem Tod seines Partners das Recht, in das Mietverhältnis einzutreten.
Ohne Vertrag. Leider interessieren sich viele ohne Trauschein zusammenlebende Paare kaum dafür, welche Rechte und Pflichten sie gegenüber dem Partner haben bzw. nicht haben. Solange die Lebensgemeinschaft einigermaßen harmonisch verläuft, ist dies ja auch problemlos. Viele der frei zusammenlebenden Paare scheuen Verträge zur rechtlichen Verpflichtung betreffend Unterhalt sowie Pensions- und Vermögensteilung. Die teuren und formalisierten Scheidungsverfahren von Ehepaaren sind ihnen ein Gräuel. Sie vergessen jedoch dabei, dass sie dann aber auch bei Unfall oder Krankheit nicht berechtigt sind, Auskunft über den Gesundheitszustand des Partners zu bekommen. Das gleiche Dilemma haben Unverheiratete auch, wenn es darum geht, für einen verunfallten oder kranken bewusstlosen Lebenspartner Zustimmungserklärungen oder Weisungen an den Arzt abzugeben. Ärzte können diese im Zweifelsfall nämlich ablehnen. Lösung: Jeweils ein Partner gibt dem anderen eine schriftliche Vollmacht. Also in jedem Fall: immer vorsorgen und voraus planen.