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Treffen der Generationen

Von Mathias Ziegler

Reflexionen
© Corbis

Ein Leseprojekt als Win-Win-Situation. Schwechater Volksschüler lesen Senioren vor - für die einen eine nette Abwechslung, für die anderen eine Lehrstunde in sozialer Kompetenz.


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Einmal im Monat, und zwar immer an einem Donnerstag, wird im Seniorentageszentrum Schwechat vorgelesen. Zuletzt war unter anderem "Frau Holle" und "Kommissar Kugelblitz" zu hören. Ungewöhnlich? Mag sein. Aber das ist nun mal der aktuelle Lesestoff der vierten Klasse der Volkschule II Schwechat, die den Pensionisten vorgelesen hat. Es ist ein ungewöhnliches Projekt, dessen Ursprung Volksschuldirektorin Ingrid Herl gar nicht mehr nachvollziehen kann. "Ich muss gestehen, ich weiß wirklich nicht mehr, bei wem ich mich für diese tolle Idee bedanken muss", sagt die Direktorin, die das Projekt im Schuljahr 2009/10 ins Leben gerufen hat. Damals gab es im Schulbezirk eine Leseaktion, und so wurde auch in Schwechat ein neuer Zugang zu diesem Thema gesucht. "Als Mutter weiß ich ja selbst, wie sehr meistens die Zeit fehlt, mit den Kindern daheim lesen zu üben. Aber nur sich selbst vorzulesen, ist einfach fad", erklärt Herl. Was also tun, um die Motivation zu steigern? "Gehen wir doch ins nahe Seniorenheim vorlesen" - dieser Vorschlag wurde dann eben rasch in die Tat umgesetzt. Und er hat sich bewährt.

"Unsere Gäste freuen sich schon jedes Mal auf die Kinder", berichtet Doris Molnar, Betreuerin im Seniorentageszentrum, das in Gehweite der Schule liegt. Der Fußmarsch ist also kein Problem für die Kinder - zumal sich mittlerweile eingebürgert hat, dass sie von vielen Senioren, denen sie vorlesen, mit Naschereien verwöhnt werden. "Die Leute sind ausgesprochen nett zu uns, geben uns immer Zuckerln - die teilen wir dann gerecht unter uns auf", sagt der zehnjährige Philipp, um gleich darauf hinzuweisen, dass es aber doch eigentlich etwas anderes im Mittelpunkt steht. Nämlich das Lesen? Naja, das auch. "Aber vor allem das Plaudern mit den älteren Menschen. Sie erzählen von früher, wir erzählen von der Schule", berichtet Philipp. Sein gleichaltriger Klassenkamerad Tobias würde gerne öfter hingehen, weil er den Austausch von Geschichten - erzählten und gelesenen - so schön findet.

Vorlesen und erzählen

Und zu erzählen haben die alten Menschen, denen die Knirpse vorlesen, ja genug. Da schwelgt dann der 87-jährige Karl Fischer in Erinnerungen an die ehemalige Wiener Gemeindebrauerei, in der er Hektoliter um Hektoliter gebraut "und natürlich auch gleich probiert" hat. Die 91-jährige Katharina Blümel wiederum war von 1953 bis 1982 Zahnärztin in Schwechat und hatte sicher viele Eltern der kleinen Vorleser als Patienten auf ihrem Stuhl sitzen. Spannende Geschichten kann auch die etwas jüngere Hedwig Wagensommer erzählen, die im Zweiten Weltkrieg mit dem Militär zunächst an die Ostsee geschickt wurde, sich dann aber mit zwei Kameradinnen mutterseelenallein wieder zurück nach Österreich durchschlug und letztendlich in Lunz am See landete. "Ja, wir tratschen so viel mit den Kindern, dass wir glatt aufs Vorlesen vergessen könnten", erzählt sie. Tun sie dann aber natürlich nicht. Denn die Kinder sollen ja ordentlich lesen lernen. Und in den Senioren haben sie tatkräftige Unterstützer gefunden: "Ich besorge mir jetzt eine Kopie für das nächste Buch, das sie uns vorlesen werden", sagt Karl Fischer, "damit ich ihnen bei schwierigen Wörtern helfen kann." Aber nicht nur die Aussprache bestimmter Wörter ist eine Herausforderung, sondern auch die deutliche Artikulation. "Wir sind ja zum Teil schon recht schwerhörig, da müssen die Kinder umso deutlicher sprechen." Auffällig dabei sei, so Fischer, dass "die Kinder mit dem größten Mundwerk am schlechtesten lesen können". Insgesamt streuen die Senioren den jungen Vorlesern aber Rosen. "Mir haben zuletzt zwei Mädchen vorgelesen, die waren echt sehr vif - überhaupt sind die heutigen Kinder sehr aufgeweckt und weniger schüchtern", meint Margarete Pesti, die von der Aktion sehr positiv überrascht war. "Ich hätte es mir nicht so toll vorgestellt."

Die jüngste Lesestudie, die Österreichs Kindern unterdurchschnittliche - und Migranten besonders schlechte - Lesekenntnisse bescheinigt, dürfte also nicht an der Schwechater Volksschule II durchgeführt worden sein. Denn deren Schüler sind nach Aussage der Senioren nicht nur gute Vorleser, sondern vor allem lernfähig. "Ich stelle ihnen immer Zwischenfragen und sage ihnen auch, dass sie den Mund ordentlich aufmachen sollen beim Vorlesen", erzählt Katharina Blümel. Ihre Tipps werden dann auch stets beherzigt. Und was ihr noch wichtig ist zu sagen: "Auch die ausländischen Schüler, die zu uns kommen, sind sehr gut im Lesen. Und sehr kontaktfreudig."

Lammfromme Rabauken

Das Leseprojekt ist mittlerweile fix etabliert im Zeitplan des Seniorenzentrums. "Wir haben ja sonst eh nix zu tun, da ist das je eine sehr willkommene Abwechslung, sagt Hedwig Wagensommer. Die Lesestunden kommen nicht nur bei den Pensionisten gut an, sondern auch bei den Kindern - und bei manchen von ihnen hat es erstaunliche Veränderungen hervorgerufen, berichtet Ingrid Herl. "Die größten Rabauken waren im Seniorenzentrum plötzlich lammfromm - fragen Sie mich nicht, wie das funktioniert hat", sagt die Frau Direktor. So nebenbei lernen ihre Schützlinge also auch soziale Kompetenz bei diesem Treffen der Generationen.

Für den Soziologen Ferdinand Wolf ist das gar nicht verwunderlich: "Kinder verhalten sich gegenüber der Großelterngeneration anders als gegenüber der Elterngeneration", erklärt der Experte. Dies liegt seiner Ansicht nach nicht zuletzt daran, dass Großeltern, noch dazu in Pension, für viele Kinder heutzutage schon wieder etwas Exotisches haben. Im städtischen Leben gibt es ja die Großfamilie mit mehr als zwei Generationen unter einem Dach, nicht. Also treffen - überspitzt gesagt - zwei Unbekannte aufeinander. "Vor allem die alten Menschen haben einen unheimlichen Erfahrungsschatz, an dem sie die ganz Jungen teilhaben lassen können", sagt Wolf. "Schließlich sind sie - bei uns in Mitteleuropa - die letzte Generation, die zumindest ein Stück vom Krieg und vom Aufbau danach selbst miterlebt hat. Sie können also ganz wesentliche Erfahrungswerte weitergeben, zum Beispiel, dass es einmal eine Zeit ohne Computer und Fernsehen gegeben hat. Es sind sozusagen Geschichten aus einer anderen Welt, die sich da für die jungen Zuhörer auftun, mit einer hohen Attraktivität und einem großen Aufmerksamkeitsfaktor."

Gelassenheit des Alters

Was den Psychologen fasziniert, ist auch immer wieder "die Gelassenheit des Alters", wie er es nennt, die bei der Elterngeneration, die mitten im stressigen Berufsleben steht, natürlich nicht zu finden ist. "Es ist eine ganz andere Gefühlsqualität", meint Wolf. Er weist auch auf eine familiendynamische Komponente hin: Großeltern gehen mit ihren Enkeln oft anders um als früher mit deren Eltern, also mit ihren eigenen Kindern. "Das hängt auch damit zusammen, dass sie meistens erst in dieser Lebensphase gewisse Dinge ausleben können, die vorher bei den eigenen Kindern nicht möglich waren. Und sei es nur, dass sie den Enkeln mehr Zuwendung geben können. Es ist also auch eine Art Nachholprozess, der sich seitens der Großelterngeneration abspielt." Gerade bei der Kriegsgeneration ist es auch mitunter so, dass gewisse Aufarbeitungsprozesse erst im späten Alter die Oberfläche erreichen und den Enkel manche Erlebnisse erzählt werden, von denen deren Eltern vielleicht gar nichts wussten - zumindest nichts Genaues.

All dies ist natürlich keineswegs neu, und so gibt es schon viele Initiativen, um das befruchtende Miteinander von Alt und Jung zu fördern. Beispielsweise wurden - auch in Wien - schon mehrfach Kindergartengruppen mit Erfolg in Seniorenwohnheimen einquartiert. Und seit zwei Jahren profitieren eben auch jene Schwechater Volksschüler davon, die bei ihren Lesestunden zum Teil neunmal so alten Menschen an einem Tisch gegenübersitzen. Und denen dabei das Gefühl gegeben wird: Da ist jemand, der ihnen Dinge erzählt, die sie vielleicht als Erste hören. Und der ihnen umgekehrt ernsthaft und ganz genau zuhört.