2300 Wissenschafter sind an der größten Forschungsmaschine der Welt tätig.
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Die Gebäude, größtenteils Plattenbauten im Stile der 1960er Jahre, lassen nicht vermuten, dass hier das größte wissenschaftliche Instrument der Welt steht. Auch haben die Labors am Campus des Kernforschungszentrums Cern nahe Genf kein System der Nummerierung, sondern das Areal ist wie ein altes Dorf historisch gewachsen und ist ebenso groß. "Das meiste Geld geht in die Geräte", weiht Daniel Weselka, Österreich-Vertreter im Cern-Rat, die Besucher bei der Anfahrt ein.
Am Ziel angelangt, fährt die Delegation um Bundespräsident Heinz Fischer und Wissenschaftsminister Karlheinz Töchterle 90 Meter unter die Erde in den kreisförmigen Tunnel des Large Hadron Collider (LHC), der sich in einem Umfang von 27 Kilometern unter dem Schweizer Kanton Genf und dem angrenzenden Frankreich erstreckt. Cern-Generaldirektor Rolf Heuer hieß seine Besucher hier, "im Zentrum des Universums", am Dienstag willkommen.
Das Zentrum des Universums ist eine unterirdische Halle so groß wie eine Kathedrale, die die Station von CMS, eines der Hauptexperimente des 2008 eingeweihten weltgrößten Teilchenbeschleunigers, beherbergt.
Die derzeit stärksten Teleskope lassen uns bis auf 380.000 Jahre nach dem Urknall zurückschauen. Davor war es zu heiß, als dass Lichtteilchen hätten entwischen können. Die runde Riesen-Maschine - im Detail eine Anordnung aus Drähten, Kabeln und Boxen - kann hingegen Zustände aus einer Zeit ein Millionstel einer milliardstel Sekunde nach dem Urknall herstellen. Der LHC ist daher so etwas wie ein Super-Teleskop, mit dem wir bis in die Anfänge des Weltalls "zurückschauen" können. "Mithilfe der Teilchen-Detektoren wollen wir ein bisschen mehr verstehen, wie sich das frühe Universum entwickelt hat", erklärt Heuer.
Das Standardmodell der Physik,für das zahlreiche Nobelpreise vergeben wurden, beschreibt Elementarteilchen - sechs Leptonen und sechs Quarks und deren Antiteilchen -, die die Grundlage bilden für Materie. Sie sind demnach die Voraussetzung für die Entstehung des Universums, der Sterne und Planeten, vor 4,6 Milliarden Jahren der Erde und folglich vor 200.000 Jahren der ersten modernen Menschen. Mithilfe des LHC wollen die Forscher diese unendlich kleinen Teilchen nachweisen.
"Es geht darum, etwas äußerst Flüchtiges, Kurzzeitiges festzumachen", erklärt Weselka. Zu diesem Zweck würden Protonen auf nahe Lichtgeschwindigkeit beschleunigt, und zwar in zwei Teilchenstrahlen, die dünner sind als eine Nadel, und in entgegengesetzte Richtungen geschickt. Tausende sehr starke, supraleitende Magnete führen die Protonenstrahlen um den riesigen Ring und bündeln sie schließlich an einem winzigen Punkt - fertig zum Crash.
Flüchtige Teilchen
Der Zusammenprall erzeugt so viel Energie, dass Teilchen erscheinen, die so beschaffen sind wie kurz nach dem Urknall. Diese Ur-Teilchen überleben aber nur einen winzigen Sekundenbruchteil, bevor sie in bekannte Teilchen zerfallen. Messgeräte am Experiment rekonstruieren die Zerfallsspuren und schließen daraus, um welche Teilchen es sich gehandelt hat. "Es ist, als würde man zwei Nadeln in entgegengesetzte Richtungen von Europa nach Amerika schießen und sie müssen sich über dem Atlantik treffen", erklärt Weselka.
Anders als seine Funktion es vermuten lassen würde, ist das Higgs-Boson eines der flüchtigsten Teilchen überhaupt. Ohne es hätte die Materie keine Masse. Aufgrund seines Gewichts lässt es sich aber nur schwer produzieren, da die Herstellung von schweren Teilchen besonders viel Energie benötigt. Seine erstmalige Beobachtung wurde im Juni 2012 als Durchbruch der Teilchenphysik gefeiert. Dennoch wurde das Higgs-Boson danach bei Millionen von Kollisionen nur noch 1000 weitere Male gefunden. Aus diesem Grund wird der LHC derzeit aufgerüstet. Ab 2014 sollen die Protonen nicht mehr mit einer Energie von 4000, sondern 7000 Giga-Elektronenvolt durch den Tunnel sausen, denn die Forscher müssen noch weitere Higgs-Bosonen finden.
"Wie sich zeigt, waren unsere bisherigen Entdeckungen Higgs-Teilchen für das Standardmodell. Das beschreibt aber nur einen kleinen Teil des Universums. Es bleiben Theorien zur Erklärung der Dunklen Materie, der Dunklen Energie und der Antimaterie. Auch sie verlangen Higgs-Bosonen", betont Heuer. Bis 2030, dem Ende der geplanten Laufzeit des LHC, will man sie finden, und zudem Ansätze finden zur Klärung der anderen genannten Bereiche. Man hat genug zu tun.
2300 Mitarbeiter, darunter 1000, deren Stellen von Universitäten, Forschungseinrichtungen oder Unternehmen finanziert werden, arbeiten in dem "Labor für Völkerverständigung", wie es Heuer angesichts der multinationalen Belegschaft formulierte. Aus Österreich sind 130 wissenschaftliche Mitarbeiter am Cern. Insgesamt 120 Österreicher haben das Doktoranden-Programm absolviert, ein Viertel davon blieb in der Forschungsstation. Rund 40 Prozent, deren Stellen von anderen Instituten bezahlt werden, gingen wieder nach Österreich zurück. Der Rest will bleiben.
"Die Zusammenarbeit mit Kollegen aus allen Teilen der Erde ist von unschätzbarem Wert", erklärt Markus Zerlauth, der an der Technischen Universität Graz studierte und nun einen unbefristeten Vertrag als technischer Ingenieur am Kernforschungszentrum hat, bei Hühnchen und Kartoffelgratin in der Kantine. Wiewohl das Cern für seine Grundlagenforschung in der Öffentlichkeit steht, seien 60 Prozent der Mitarbeiter Techniker, die dafür sorgen, dass die Geräte reibungslos funktionieren. Weitere 20 Prozent würden in der angewandten Physik arbeiten und nur 20 Prozent in der Theorie.
"Die Grundfrage ist immer, wie bekommen wir die Teilchen um den Ring herum?", fügt Verena Kain hinzu, eine Physikerin, die genau hierfür am CMS-Experiment zuständig ist. Obwohl in der Publikation ihr Name nicht bei den Autoren aufscheint, sieht sie das Higgs-Boson auch als ihre Entdeckung: "Das Higgs wäre nicht gefunden worden ohne uns alle." Und nicht ohne schnelles Arbeiten. Denn gerade um das Higgs-Teilchen konkurrieren zwei Teams, da zwei der vier Hauptexperimente am Beschleuniger-Ring, Atlas und CMS, einander Resultate überprüfen müssen, um Fehler auszuschließen. Wenn beide Teams ähnliche Daten haben, sitzen vor allem die jungen Wissenschafter nächtelang, weil sie lieber die Ersten sein wollen. "Wir nennen es friendly competition", sagt Claudia-Elisabeth Wulz vom Österreich-Team am Cern nicht ohne Augenzwinkern.
"Hadronic Festival"
Zum Ausgleich musizieren die Forscher. Verschiedene Bands bieten ihre Künste alljährlich beim "Hadronic Festival" auf dem Campus dar. Die parodistische Popmusik-Gruppe "Les horribles Cernettes" soll sogar einen gewissen Bekanntheitsgrad erreicht haben. "Die schrecklichen Cern-Mädchen" bezeichnen sich als Hochenergie-Rockband - und kürzen sich mit LHC ab. Zu vernehmen ist allerdings, dass die Gruppe sich nunmehr getrennt hat, weil ihre Mitglieder Berufungen in anderen Ländern gefolgt sind.
Möglicherweise könnten in Zukunft auch hochmoderne Teilchenbeschleuniger nicht mehr nötig sein. "Man sagt immer, die Teilchenphysik geht in den Welttraum", spekuliert Verena Kain. Immerhin gibt auch die kosmische Mikrowellen-Híntergrundstahlung Aufschluss auf die Zustände nach dem Urknall. "Zudem fliegen die Materieteilchen im Weltall herum. Das Problem ist nur, dass man sie nicht einfangen kann", sagt Markus Zerlauth. Der LHC schafft da schon ein weitaus kontrollierbareres Universum.
Wissen: Cern
Das Cern, die Europäische Organisation für Kernforschung, ist eine Großforschungseinrichtung in der Nähe von Genf. Das Akronym leitet sich vom französischen Namen der Gründungsorganisation Conseil Européen pour la Recherche Nucléaire (Europäischer Rat für Kernforschung) ab. Die Gründung erfolgte 1954 durch die zwölf Gründungsmitglieder Schweiz, Belgien, Dänemark, (West-) Deutschland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Italien, Jugoslawien (Austritt 1961), Niederlande, Norwegen und Schweden. Österreich trat 1959 bei. Inzwischen finanzieren 20 Mitgliedsstaaten das Cern nach einem Schlüssel, der sich nach Einwohnerzahl und Wirtschaftskraft richtet. Das Herzstück ist ein 27 Kilometer langer, ringförmiger Tunnel, der den großen Hadronen-Speicherring Large Hadron Collider (LHC) beherbergt. Der LHC ist die größte Beschleunigeranlage der Welt und bedient die vier Großexperimente CMS, Atlas, Alice und LHCb sowie zwei kleinere Experimente. Das jährliche Budget beläuft sich auf 886 Millionen Euro, der österreichische Anteil beträgt 2013 rund 2,2 Prozent oder 19,5 Millionen Euro. Das World Wide Web ist wohl die populärste Anwendung der Cern-Forschungen.