Seit über einem Jahr existiert "Occupy", die weltweite Bewegung gegen die Auswüchse des Finanzkapitalismus. Inzwischen ist die Protestwelle verebbt, die meisten Lager sind geräumt. Was bleibt von den Demonstrationen? Eine kritische Bilanz.
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"Wir sind die 99 Prozent." Diese Sentenz hat sich eingebrannt. Wir, die Masse der Mittelosen, gegen die 1 Prozent der Mächtigen.
Der Vorwurf an die "1 Prozent der Produktionsmittelbesitzer" ist, dass sie unverantwortlich mit Gemeingütern operieren, Reichtümer anhäufen und in die eigene Tasche wirtschaften. Die Klasse der Kapitalisten, so insinuieren die Occupy-Aktivisten, sei allein dem Partikularwohl verpflichtet.
Anmaßende Maxime
Die antikapitalistische Rhetorik erscheint für Arbeitnehmer und Gewerkschaften attraktiv. Occupy will sich jedoch nicht für eine politisch motivierte Kampagne ins-trumentalisieren lassen. "Niemand hat ein Copyright auf den Arbeiterkampf", dekretiert Occupy. Es ist dieser Ton der Unverbindlichkeit und Unparteilichkeit, der die Bewegung charakterisiert. Occupy will einnehmen - und nicht vereinnahmt werden. Es begreift sich als ein universelles, ubiquitäres Sprachrohr, das die Interessen der Allgemeinheit artikuliert.
Allein, die Maxime "Wir sind die 99 Prozent" ist anmaßend - suggeriert sie doch, dass die überwältigende Mehrheit der Menschen die Programmatik unterstützt. Warum dieser Absolutheitsanspruch? Warum muss man die Gesellschaft in Geiselhaft nehmen? Occupy tritt bisweilen mit einem unsäglich rechthaberischen Gestus auf. In Wirklichkeit ist die Bewegung nur ein versprengter Haufen. Knapp 5000 Demonstranten zählte man heuer bei einer Kundgebung vor der EZB in Frankfurt. Auch an der Wall Street waren es nicht viel mehr. Überspitzt gesagt: Was sind ein paar Tausend gegen die Milliardensummen an der Börse?
Gleichwohl lässt sich die Wirkkraft der Bewegung nicht mit quantitativen Größen messen. Occupy ist es gelungen, einen Teil der Öffentlichkeit zu besetzen. Die Aktivisten sind Agendasetter. Ihr Anliegen füllt Leitartikel, Nachrichtensendungen und Feuilleton-Diskussionen.
Aber was will die Bewegung eigentlich erreichen? Auf der Website der deutschen Sektion heißt es: "Wir wollen Gleichheit, Fortschritt, Solidarität, kulturelle Freiheit, Nachhaltigkeit und Entwicklung - sowie: das Wohl und Glück der Menschen müssen als Prioritäten einer jeden modernen Gesellschaft gelten." Das klingt nach Wunschmusik, nach gestanzten Formeln, wie sie in jedem Parteiprogramm stehen könnten. Von revolutionärer Rhetorik keine Spur. Occupy stellt nicht die Systemfrage. Trotzdem kommt in den Verlautbarungen ein latentes Unbehagen mit den Machtstrukturen zum Vorschein.
Zügel für die Zocker
"Die Gier nach Macht und deren Beschränkung auf einige wenige Menschen bringt Ungleichheit, Spannung und Ungerechtigkeit mit sich, was wiederum zu Gewalt führt, die wir jedoch ablehnen. Das veraltete und unnatürliche Wirtschaftsmodell treibt die gesellschaftliche Maschinerie an, einer immerfort wachsenden Spirale gleich, die sich selbst vernichtet indem sie nur wenigen Menschen Reichtum bringt und den Rest in Armut stürzt. Bis zum völligen Kollaps." Soll heißen: Der Antagonismus von Arm und Reich sprengt die soziale Ordnung.
Occupy will den Zockern die Zügel anlegen, das Finanzsystem demokratisch einhegen. "Mehr Demokratie jetzt", fordern die Kapitalismuskritiker. Natürlich ist das plakativ und auch ein Stück weit wohlfeil. Trotzdem treffen sie damit einen wunden Punkt. Den gewählten Volksvertretern gelang es bisher jedenfalls nicht, die Marktteilnehmer verbindlichen Regeln zu unterwerfen. Das Primat der Politik ist erodiert - mehr noch: Es hat sich in ein Primat der Märkte verkehrt.
Die Übermacht des Kapitals ist die Ohnmacht des Volkes. Zynisch wetten Investoren auf den Zahlungsausfall von Staaten, auf den Verfall des Gemeinwohls. Der Finanzkapitalismus fordert die Demokratie heraus. Beide Systeme folgen einer unterschiedlichen Funktionslogik: hier die Herrschaft des Volkes, dort die Herrschaft des Profits. Es gibt einen fundamentalen Systemkonflikt. Natürlich braucht ein Staat eine funktionierende Volkswirtschaft. Umgekehrt benötigt das Kapital rechtsstaatliche Spielregeln. Doch in der Zuspitzung des Konflikts, die wir derzeit erleben, geraten die Bürger zwischen die Fronten.
Normative Umwälzung
Die Menschen spüren, dass sie zur Manövriermasse des globalen Finanzkapitals geworden sind. Sie müssen Lohnsenkungen und Pensionskürzungen hinnehmen, damit die Risikoaufschläge für Staatsanleihen sinken. Eine krude Logik. So etwas ist nur schwer vermittelbar. "Wir sind Menschen, keine Produkte", wettert Occupy. Daher, so die Forderung, "brauchen wir eine ethische Revolution." Doch wie soll solch eine "normative Umwälzung" geschehen? Wie kann man Partikular- und Gemeinwohl versöhnen?
Occupy intendiert, wie der Name nahelegt, diejenigen Besitztümer in Beschlag zu nehmen, die eigentlich der Allgemeinheit zustehen, aber, so die Lesart, von profitgierigen Managern gekapert wurden. Wobei nicht ganz klar ist, ob mit Okkupation eine dauerhafte Belagerung im Sinne einer Enteignung oder nur eine vorübergehende Inbesitznahme gemeint ist. Die Rhetorik von Occupy ist jedenfalls genauso usurpatorisch wie das von ihr gerügte Gebaren der Finanzwelt. Eine Doppelmoral. Wo zieht man die Grenzen? Die Frage, wem welches Gut gehört, wer Eigentumsrechte besitzt, beantwortet Occupy nicht.
Ebenso wenig wie die Piraten, die in Europa derzeit auf einer Welle der Sympathie segeln. Sie wollen die Politik "verflüssigen", jedwede Sachfrage einer basisdemokratischen Entscheidung anheimstellen. Politik als offenes Betriebssystem, an dem jeder mitwirken kann.
Heterogene Plattform
Beide Bewegungen entspringen einem egalitären und gleichsam emanzipatorischen Impetus. "Wir tragen nicht länger die Last eures Systems", war auf Plakaten zu lesen. Und: "Politik für Bürger." Es sind viele Allgemeinplätze, die sich in die bisweilen sektiererischen Positionen mischen. Die Inhalte diffundieren.
Occupy ist eine sehr heterogene Plattform. Die Aktivisten stellen die richtigen Fragen, geben aber die falschen Antworten. Immer wieder rekurrieren sie auf kommunistische und anarchistische Ansätze. Das sind Konzepte aus der Mottenkiste. Man muss nicht Marx zitieren, um für mehr Regulierung an den Finanzmärkten einzutreten.
Gleichwohl scheinen die Ideen bei vielen Intellektuellen Anklang zu finden. Der amerikanische Ethnologe und bekennende Anarchist David Graeber, der mit seinem Buch "Schulden. Die ersten 5000 Jahre" einen Bestsellererfolg landete, schreibt: "Eine Sache wissen wir: Das System wird sich verändern. Alle Systeme werden sich verändern. Wir wissen nur nicht, wann. Die Sowjetunion ist kollabiert, die USA werden auch eines Tages fallen. Wir wissen nur nicht wann. Ich denke, das Beste wird sein, dass wir uns darauf vorbereiten und sichergehen, dass ein besseres System folgt."
Graeber beschwört ein Menetekel, das sich bald zur Gewissheit verdichten könnte. Allein, es ist eine vage Prognose. Graeber präzisiert nicht - und das ist die Schwäche seiner jüngsten Werke -, was an die Stelle des Alten tritt und wie sich dieser Übergang gestalten könnte.
Zwei Ansätze können für diesen Prozess fruchtbar gemacht werden. Erstens das Paradigma der "Kreativen Zerstörung" von Joseph Schumpeter. Die Destruktion der Wirtschaft führt demnach zur Konstruktion eines neuen Ordnungsrahmens. Krisen, schrieb Schumpeter 1926, sind "Wendepunkte der wirtschaftlichen Entwicklung". Sie markieren keinen Niedergang, sondern einen Neuanfang. Der Prozess der industriellen Mutation zerstört alte Strukturen und schafft unaufhörlich neue. Schöpferische Zerstörung als Ergebnis einer evolutionären Entwicklung. Aus dieser Dynamik schöpft die Wirtschaft ihre Innovationsfähigkeit. Auf den Fall Griechenlands übertragen, würde das bedeuten, dass moderne Solaranlagen marode Industriesektoren ersetzen. Doch hat die Ökonomie die Kraft, sich selbst zu erneuern?
Die soziologische Systemtheorie von Niklas Luhman, zweitens, knüpft an dieses Denkmodell an. Sie besagt, dass soziale Systeme aus sich selbst heraus entstehen. Gesellschaftliche Subsysteme reproduzieren sich wie biologische Organismen. Jedes Teilsystem ist funktional ausdifferenziert und verfügt über einen eigenen, binären Code. Im politischen System gilt der dichotome Grundsatz Macht haben oder nicht, im juridischen Recht/Unrecht, im wirtschaftlichen Zahlen/Nichtzahlen. Die Subsysteme sind abgegrenzt, interagieren aber im Rahmen eines funktionierenden Gesamtsystems. Es kommt zum Austausch.
Soweit die Theorie. Das Problem ist bloß, dass die Kommunikationskanäle momentan verrostet sind. Es gibt kaum Interaktionen. Das kapitalistische System hat sich verselbständigt. Hinzu kommt, dass die Funktionslogik nicht mehr bicodiert, sondern unicodiert ist. Zugespitzt formuliert: Nur wer Macht und/oder Geld hat, gehört zum System. So wird aus den Teilsystemen ein exklusiver Klub. Der Rest ist ausgeschlossen. Eine gefährliche Entwicklung.
Zerfällt das System?
Luhmann argumentiert, dass rigide Systeme, die kaum im Austausch mit ihrer Umwelt stehen, auf Dauer nicht bestehen können. Der Grund ist der, dass - ähnlich wie bei einer Osmose - der Außendruck an der Grenze zwischen System und Umwelt nicht mehr ausgeglichen wird. So geschah es etwa beim Zusammenbruch der Sowjetunion, deren soziales Sinnsystem sich abschottete und immunisierte. Konsequenz: Der Kommunismus implodierte. Nach Luhmann sind Systeme nur dann stabil, wenn die Umwelteinflüsse konstant sind.
Erleben wir gerade den Zerfall des Kapitalismus? Was die externen Einflüsse angeht, sind rasante Entwicklungen zu beobachten. Die ökonomischen Parameter ändern sich permanent. Bonitäten werden herabgestuft, Banken gehen pleite, ganze Staaten stehen vor dem Zahlungsausfall. Die horrende Staatsverschuldung, gepaart mit der Entkopplung von Börsenwert und Realwirtschaft, unterminiert das Fundament der Wirtschaft. Wir leben in einer Tilgungsillusion. Die akkumulierten Schulden können nicht zurückgezahlt, die Gläubiger nicht befriedigt werden. Solvenz ist in Wirklichkeit eine Fiktion. Die Codierung Zahlen/Nichtzahlen wird ad absurdum geführt. Folglich müsste der Kapitalismus zerfallen.
Die Mahnung von Occupy, dass wir auf einen Systemkollaps zusteuern, lässt sich theoretisch also gut begründen. Den Aktivisten ist bewusst, welch destruktive Dynamik dem Kapitalismus inhärent ist. Allein, wie sich diese Entwicklung stoppen oder gar steuern lassen könnte, vermag die Occupy-Bewegung nicht zu erklären.
Vor allem: Was soll das kapitalistische System ersetzen? Die kommunistischen Modellversuche haben sich in der Vergangenheit als untauglich erwiesen. Wohl kaum werden die Demons-tranten die Dirigenten eines Wandels sein, wie sie es vielleicht gerne hätten. Die Bewegung besteht aus "Bewegten" - einem passiven Kräftefeld. Occupy ist der Treibriemen der Transformation.
Trotzdem - und darüber sollte man sich keine Illusionen machen - wird Occupy schwerlich auf eine grundlegende Demokratisierung der Finanzwelt und gerechtere Verteilung des Wohlstands hinwirken können. Das Gros der Forderungen wird verhallen. Mittlerweile haben einige Aktivisten die Losung "Defend Occupy" ausgegeben. Das klingt arriviert und schwunglos. Als müsste man der Bewegung Bestandsschutz gewähren. Occupy diskutiert derzeit vor allem über Occupy. Diese Selbstreferenzialität kann zum Bedeutungsverlust der Bewegung führen. Es wäre eine Ironie der Geschichte, wenn die Kritiker des Kapitalismus vor eben jenem System kapitulieren müssten. Es wäre freilich nicht die erste - und nicht die einzige.
Adrian Lobe, geboren 1988, studiert Politik- und Rechtswissenschaft an der Universität Heidelberg (derzeit an der Sciences Po in Paris) und schreibt für verschiedene deutschsprachige Zeitungen.